Auszug aus dem Buch „Der Geschmack des Lebens“ von Valeria Vairo
Manchmal denke ich, dass es auf der Welt zwei Arten von Menschen gibt. Wurzelmenschen und Blättermenschen.
Wurzelmenschen haben immer an demselben Ort gelebt, leben dort und werden immer an diesem von ihnen über alles geliebten Ort leben. Dort haben sie ihre Freunde, den Friseur, den Priester und den Hausarzt, ihre Erinnerungen und ihre Sicherheiten, ein beständiges, vertrautes Leben. Sie haben eine klare und eindeutige Identität, geprägt von einem Dialekt und von Generation zu Generation überlieferten unverwechselbaren Traditionen und Bräuchen. Sie haben ein einziges Haus und damit basta, kein weiteres, eine Gefühlswelt, in der sie geborgen sind, die für sie keine Geheimnisse hat und in der sie sich wie selbstverständlich bewegen, in dem Bewusstsein, die Härten des Lebens mit einer Gemeinschaft zu teilen.
Anders die Blättermenschen. Ein Windstoß genügt und sie finden sich plötzlich an den unterschiedlichsten Orten wieder. Oft sind sie in Familien aufgewachsen, die im Laufe der Jahrhunderte von einem Ort zum nächsten gezogen sind und keine wirkliche historische Bindung an ihren Ursprungsort bewahren konnten. Sie fühlen sich keinem bestimmten Ort tief verbunden und besitzen eine erstaunliche Fähigkeit, sich anzupassen und jedes Mal wieder ein neues Netz von Beziehungen zu knüpfen.
Mir genügte ein Windstoß, um mich unversehens in Deutschland wiederzufinden. Genauso ist es meinen Eltern ergangen, als es sie aus Apulien in die Lombardei verschlug. Dort bin ich geboren und aufgewachsen, hin- und hergerissen zwischen den Regeln des Nordens und denen des Südens, die ineinandergriffen, sich überlagerten und sich widersprachen.
Meine Familie lebte in der Welt der Emigranten, die ihre Heimat verlassen, um wer weiß wohin zu gehen, einer Welt fern der vertrauten Sphäre warmer Zuneigung, einer Welt jedoch auch reich an überaus intensiven Augenblicken voll Liebe, wenn sich die ganze Familie in Zuneigung und Fröhlichkeit vereint in den Armen liegt. Ich lebte, als gehörte ich einer „Zwischenwelt” an und so haben mich auch mir nahestehende Menschen erlebt. Im Norden wunderten sie sich über mein geschlossenes „O”, im Süden lachten sie, wenn ich „neh?” sagte.
Heute lebe ich einmal mehr in einer Zwischenwelt als früher, denn das Schicksal hat mich den Blättermenschen zugeordnet und beschlossen, diesen Scherz fortzuführen, indem es mich noch einmal weitertrieb. Und jetzt, da ich vierzig bin, kommt es mir so vor, als würde sich wie durch Zauberhand die Geschichte meiner Eltern wiederholen, als würden sich wie in einem Film einzelne Szenen unserer Familie immer wieder abspulen.

Eines Tages, als ich meine Eltern auf dem Bahnsteig in München ankommen sah, mit den Ölkanistern und Konserven, die sie mir mitgebracht hatten, überkam mich ein seltsames Gefühl. In jenem Moment war ich sie und sie waren meine Großeltern auf dem Bahnsteig in Como vor sechzig Jahren mit den Konserven und den Ölkanistern, vor allem aber mit demselben liebevollen Blick. Und die Geschichte beginnt von Neuem.
Endlich im Norden!
Meine Eltern ließen das grelle Licht des Südens zurück und begaben sich in das regnerische, an einem See gelegene Städtchen. Die Entfernung zu der Familie, ihrer Kultur und ihren Gewohnheiten sollte das junge Paar auf eine harte Probe stellen, ohne dass dies dazu angetan war, die einmal getroffene Wahl rückgängig zu machen. Die beiden waren stark, und diese Stärke zogen sie aus dem Bewusstsein, das Richtige zu tun, wenn sie sich und ihren Kindern, die dort erst noch geboren werden sollten, den Traum von einem aussichtsreicheren Leben erfüllten. Dafür waren sie bereit, alle notwendigen Opfer auf sich zu nehmen.
Sie sagten Adieu zu den Märkten mit den silberglänzenden Fischen, die nach Meer rochen, zu den reichlich gedeckten Tischen mit Leckerbissen und Familie drumherum, zur weichen, saftigen Mozzarella, zum Gemüse in leuchtenden Farben, zu den sonnengereiften Früchten, die von den Zweigen gepflückt und gegessen werden wollten. Sie sagten Adieu zum Meer und gaben sich voller Wehmut mit einem See zufrieden, der anfangs — bevor ihre Sinne sich geschärft und sie gelernt hatten, die geheimnisvollen Wandlungen zu erfassen — sich immer gleich zu bleiben schien; und sie sagten insbesondere Adieu zu dem Licht ihrer Heimat. Dieses Licht ist wirklich ein besonderes Licht. Das von Molfetta empfängt dich wie die Umarmung einer Großmutter aus dem Süden. Voll milder Wärme und dem Duft von Gewürzen hüllt es dich ein, so sehr, dass es dir den Atem nimmt. Von der Weichheit und der Wärme des Lichts aufgesogen, vergisst du die Welt.
Schon am Hafen und dann auch in der ganzen Stadt atmet man am Morgen blaurosa Luft. Boote legen an, und die Fischer steigen, beladen mit Kisten voller lebender Fische, auf die Mole. Streunende, ein wenig schmutzige und verwahrloste Hunde und Katzen finden sich ein, um ihrerseits zu fischen, was aus den Netzen fällt, die gereinigt werden, während der bereits lärmende und hektische Fischmarkt sich anschickt, in seinem großen Magen alles aufzunehmen, was das großzügige Meer ihm bietet.

In solchen Momenten stelle ich fest, dass das Leben in Deutschland mich verändert. Das chaotische und laute Italien nervt mich tatsächlich inzwischen ein wenig, ebenso wie das vermessene Ego desjenigen, der unverblümt neben mir privateste und intimste Unterhaltungen führt, ganz zu schweigen von den ständigen Klingeltönen mit ihrem absolut störenden Gedudel. Die Liste ist lang, es gibt so viele Dinge, an die ich, solange ich in Italien lebte, gewöhnt war und die ich selbstverständlich akzeptiert habe, die mich jetzt aber nicht mehr überzeugen. (…)
Emigranten tragen tatsächlich sehr oft ein festes Bild ihres Landes zu dem Zeitpunkt in sich, zu dem sie es verlassen haben. So geschieht es, dass für sie der Ursprungsort bleibt, wie er einmal war, bis daraus schließlich ein unveränderlicher Mythos wird.
Illustration: Elena Buono
Als junges Mädchen habe ich einige Jahre in einer Welt von Regeln gelebt, die es im Norden nicht gab und die mittlerweile auch im Süden überwunden waren. Während meine Freundinnen aus Como genau wie meine Cousinen in Apulien in die Disco gehen und spät nach Hause kommen durften, war für mich zehn Uhr die oberste Grenze und von der Disco konnte ich nur träumen. Und das nur, weil meine Eltern aus mir ein ernsthaftes und geachtetes Mädchen machen wollten. Überzeugt davon, dass das Leben einer jungen Frau voller Risiken und Verlockungen sei, beschlossen sie, das Problem an der Wurzel zu beseitigen.
Valeria Vairo: Il sapore della vita / Der Geschmack des Lebens
Aus dem Italienischen von Ina-Maria Martens.
© 2016 dtv Verlagsgesellschaft, München.