Ein Interview mit Maryam Haidari über die Situation in Afghanistan
Redaktion: Gisela Mertel-Schmidt
Maryam ist Afghanin und obwohl sie das Land schon vor ungefähr 15 Jahren verlassen hat, leidet sie mit ihrer Heimat und den zurückgelassenen Verwandten und Freunden unter den dramatischen Entwicklungen seit August diesen Jahres.
Wir haben darüber schon ein paar Mal gesprochen, aber Maryam ist immer wieder in Tränen ausgebrochen. Doch heute ist sie mit einem Interview einverstanden. Maryams Muttersprache ist Dari oder Farsi, ein persischer Dialekt. Wir sprechen deutsch miteinander.
NeuLand: Schön, Maryam, dass wir uns heute hier treffen konnten. Wir wollen über deine Heimat sprechen, wenn das auch ein schwieriges Thema für dich ist. Ich freue mich, dass du trotzdem bereit bist. Es hat schon eine Zeit gebraucht, bis du das geschafft hast, oder?
Maryam: Ja.
NeuLand: Aus welcher Region in Afghanistan stammst du?
Maryam: Ich komme ursprünglich aus dem Volk Hazara, aus Behsud in Maidan Wardak, zwei Stunden weit von Kabul.
NeuLand: Wann hast du Afghanistan verlassen?
Maryam: Das war ungefähr 2005.
NeuLand: Und warum?
Maryam: Die Lage war zu unsicher, vor allem für meinen Mann.
NeuLand: Und dann seid ihr gleich nach Deutschland gegangen?
Maryam: Nein, wir sind in den Iran. Im Iran hatten wir kein Aufenthaltsrecht. Dann sind wir nach Deutschland. Das war 2007.
NeuLand: Wie war die Lage in Afghanistan seit 2005 aus deiner Sicht?
Maryam: Die war gut. Zu meiner Zeit war (Hamid) Karzai unser Präsident. Diese Zeit war schon gut, das war nach den Taliban, nach 2001, also die letzten 20, 21 Jahre war für Afghanistan eine gute Zeit, weil viele gute Dinge passiert sind, viele Häuser sind gebaut worden. Die Ausbildungsstellen waren besser, die Arbeitsstellen und die Schule: Mädchen konnten doch zur Schule gehen. Und viel Entwicklung war dabei. Ja, das war schon eine gute Zeit.
NeuLand: Hat sich vor allem für die Frauen viel geändert? Auch sonst, außer den Ausbildungsmöglichkeiten?
Maryam: Ja, Frauen haben viele Rechte bekommen nach den Taliban in dieser Zeit, konnten draußen viel machen, arbeiten, Bildung, Schule. Aber leider jetzt wieder …
NeuLand: Und wie war es rein äußerlich, konnten Frauen sich frei bewegen, was war ihre Kleidung, wie war die Kleiderordnung?
Maryam: Die letzten 20 Jahre waren für Frauen eine relativ gute Zeit. Sie haben gute Arbeit gehabt, in den Medien, im TV, als Journalistinnen. Aber trotzdem z.B. auf der Straße, draußen, hatten sie auch manchmal Schwierigkeiten.
NeuLand: Es ist ja auch ein langer Weg, der noch nicht zu Ende war. Und jetzt sind sie wieder zurückgeworfen in den Stand vor 20 Jahren.
Maryam: Ja, genau. Bei dem Gedanken an die Taliban muss ich sagen: wieder zurück vor 100 Jahren. Wir denken wirklich so. Denn die Taliban denken so: Frauen sollen zuhause bleiben, nicht arbeiten. Aber wenn eine Frau keinen Mann hat und drei Kinder – wer sorgt für Ernährung, wer bringt Lebensmittel?
NeuLand: Waren die Frauen vor den Taliban sonst eingeschränkt in ihrem privaten Leben? Mussten sie bei der Familie bleiben, oder…
Maryam: Ja es ist so bei uns. Eine Frau heiratet bei uns und dann geht sie mit dem Mann und sie gründen eine Familie.
NeuLand: Ok. Und die Kleidung? Also ich sehe, du hast immer ein leichtes Tuch über den Haaren… Das war so möglich?
Maryam: Das war so normal. Also, die Frauen konnten, wenn sie wollten, kein Kopftuch tragen. Jetzt sie müssen schon.
NeuLand: Also sie konnten ganz normal westlich mit Jeans und T-Shirt…
Maryam: Genau. Trotzdem viele Frauen … Wir sind eben ein islamisches Land, viele Frauen haben Kopftuch getragen, auch Burka und Hijab. Aber die Taliban bedrohen Frauen, die keine Burka oder Hijab tragen. Ich bin so stolz auf die Frauen in Afghanistan, weil manche trotzdem ohne Bedeckung auf die Straße gehen.
NeuLand: Wie war die wirtschaftliche Lage? Gab’s genug zu essen?
Maryam: Ja, es gab schon genug zu essen. Mit den Arbeitsstellen war es schon nicht so gut, es gab nicht viele Arbeitsstellen, aber trotzdem war es gut in den letzten 20 Jahren. Aber jetzt gibt es gar keine Arbeit.
NeuLand: Waren die Taliban spürbar damals, zwischen 2001 und 2005, als du noch dort warst oder waren sie da ganz verschwunden?
Maryam: Ich habe sie nicht bemerkt. Und wenn vielleicht, dann aber nicht in Kabul.

NeuLand: Sie haben sich zurückgezogen in die Berge oder nach Pakistan…
Maryam: Genau. Aber in den letzten ungefähr fünf Jahren gab es viele Attentate vor allem gegen die Hazara, in dem Viertel von Kabul und den Gebieten, die von den Hazarabewohnt werden, vor allem gegen Schulen und Kinder. (Für die Taliban, auch sie Paschtunen, sind die schiitischen Hazara Menschen zweiter Klasse, sie sind für sie »Kuffar«: Ungläubige. Menschen, denen man Land und Rechte nehmen kann.)
NeuLand: Hast du noch Verwandte und Freunde in Afghanistan?
Maryam: Ja, Freunde habe ich schon, und die Schwestern von meinem Mann leben noch dort.
NeuLand: Und du hast Kontakt zu ihnen?
Maryam: Ja, über das Internet. Wenn die genug Akku -lacht- für die Handys haben…
NeuLand: Wenn sie Strom haben?
Maryam: Ja, weil oft geht der Strom weg.
NeuLand: Wie ist jetzt die Lage? Was hörst du von deinen Freunden oder Verwandten?
Maryam: Natürlich, es ist eine Katastrophe, alles. Also für Frauen zum Beispiel: wir hatten Krieg um unser Land und vielen Frauen sind ihre Männer gestorben und die sind mit den Kindern allein geblieben – in diesen letzten 20 Jahren, die haben selber gearbeitet und Geld nach Hause gebracht. Aber jetzt gibt es keine Arbeit für Frauen und für diese Frauen ist diese Zeit wirklich eine Katastrophe und für andere Frauen, die mit ihrem Mann zusammen leben, ist es auch so. Für Männer auch, für viele Männer und Frauen gibt«s jetzt keine Arbeit mehr. Viele leben von dem, was sie gespart haben früher. Was passiert, wenn irgendwann diese Ersparnisse auch weg sind und keine Arbeit, kein Geld …
NeuLand: Sie bekommen, glaube ich, jetzt auch kein Geld von der Bank, sie können nicht beliebig viel abheben? Also nur eine bestimmte Summe…
Maryam: Ja, genau.
NeuLand: Und sie müssen dafür lange anstehen… Wie ist so dein Eindruck: ist es speziell in Kabul schlimm?
Maryam: Nein, überall, in ganz Afghanistan.
NeuLand: Und wie helfen sich jetzt die Menschen? Was machen sie so? Gibt es irgendwelche Möglichkeiten? Versuchen sie…
Maryam: Ja, sie suchen Arbeit und machen irgendwas, aber ich hab schon letzte Woche eine Nachricht gelesen: manche Familien verkaufen in manchen Städten ihre Kinder… Vor allem die Mädchen. Wenn eine Familie zum Beispiel drei, vier Mädchen hat – verkaufen die ein Mädchen! Und das ist so traurig –
NeuLand: – furchtbar –
Maryam: Ja. Zum Beispiel wenn eine Familie drei, vier Mädchen hat, verkauft sie eines …
NeuLand: Es ist wahrscheinlich einfach schwer, sie zu ernähren. Wovon leben die Menschen denn? Gibt’s wenigstens Märkte mit Gemüse und Obst, oder …?
Maryam: Ich habe gelesen, dass eine Oma mit zwei Enkeln alleine geblieben ist und sie wusste nicht, was sie machen sollte, dass sie Ernährung für die Enkel bekommt und deswegen wollte sie beide weiter verkaufen. Und das war so traurig, ich hab so geweint(Maryam kommen die Tränen…)
NeuLand: Ja, da muss man schon sehr verzweifelt sein, dass man so etwas tut.
Maryam: Ja. (seufzt)
NeuLand: Und welche Möglichkeit siehst du? Werden die Leute jetzt eher mit den Taliban zusammenarbeiten, versuchen, mit denen irgendwie zurechtzukommen oder werden sie versuchen, einen Aufstand zu machen?
Maryam: Also von den afghanischen Leuten möchten vielleicht nur die Paschtunen mit den Taliban weiter arbeiten, das andere Volk nicht. Zum Beispiel die Tadschiken, Hazara oder Usbekenmöchten nicht mit den Taliban zusammen arbeiten. Manche Taliban sind schon Paschtunen und manche Paschtunen sind sogar froh, dass die Taliban da sind, ja.
Die sind zufrieden mit den Taliban. Für die ist nicht so wichtig, was passiert mit anderen Leuten oder was für das ganze Land passiert. Die sind nur froh und zufrieden, weil die jetzt in der Regierung sind, die Taliban, die von unserem Volk sind. Obwohl- manche Taliban sind auch von Pakistan nach Afghanistan gekommen –
NeuLand: …aus der Grenzregion…
Maryam: …ja, genau. Eigentlich ist das ist eine Regierung, die Pakistan für Afghanistan gebildet hat. Die machen jetzt Zusammenarbeit. Pakistan war nie gut für unser Land, nie. Hat für uns immer schlechte Dinge gemacht.
»Manche Familien verkaufen in manchen Städten ihre Kinder…
Vor allem die Mädchen«

NeuLand: Und wie ist es jetzt, ich habe gelesen, dass sehr viele Afghanen noch ausreisen wollen. Hast du das Gefühl, dass die meisten keine Möglichkeit sehen im Land zu bleiben?
Maryam: Ja wirklich, für manche ist es wirklich sehr schwer, dass sie weiter dort bleiben, weil vielleicht hast du gelesen, dass die Taliban schon viele berühmte Leute, die in den Medien gearbeitet haben oder General oder an einer wichtigen Stelle waren – die haben sie schon getötet. Und sie haben schon viele Journalisten mitgenommen und auch geschlagen und dann wieder frei gelassen. Deswegen gibt es keine Sicherheit für die Leute, die ein bisschen bekannt waren. Deswegen möchten alle jetzt raus. Ich bin andererseits traurig, weil alle die etwas können, verlassen das Land. Was passiert in der Zukunft für Afghanistan? Was passiert in fünf oder zehn Jahren? Alle sind raus, und natürlich, wenn sie nach Europa oder Amerika kommen oder Australien, bekommen sie eine Aufenthaltsgenehmigung und Wohnung und bleiben. Sie machen hier weiter, arbeiten und machen Ausbildungen und möchten nicht wieder zurück. Vielleicht gehen manche auch zurück, aber viele bleiben hier und das finde ich auch schade andererseits. Aber sie haben keine andere Lösung zur Zeit, weil sie nicht in Sicherheit sind, sie haben Angst. Sie können nicht auf die Straße gehen oder nicht arbeiten gehen, damit sie nicht getötet werden durch die Taliban. Deswegen ist jetzt die einzige Lösung, dass sie rauskommen.
NeuLand: Ist das vielleicht auch ein Druckmittel gegen die Taliban? Die müssen ja auch merken, dass alle Leute, die gut ausgebildet sind oder kreativ sind, weg wollen?
Maryam: Ja, die sagen ja, lieber sollen die Leute hierbleiben. Wir brauchen für die Zukunft in Afghanistan Leute. Aber die Taliban lügen, die machen nicht, was sie sagen. Sie lügen einfach und sagen ja, die Leute können bleiben und weiter arbeiten, aber andererseits nehmen sie z.B. junge Männer, die Journalisten sind und schlagen sie und lassen sie dann wieder frei. Natürlich, wenn man dieses Gefühl hat, dass man nicht sicher ist, verlässt man sein Land.
NeuLand: Ja, das ist schrecklich, auch für die Familien.
Maryam: Viele, die ein bisschen bekannt waren, haben jetzt ihre Familien verlassen und sind rausgekommen, ihre Familien sind allein in Afghanistan.
NeuLand: So wie ich es verstanden habe, sind auch die Taliban unter Druck durch die Islamisten wiederum. Also ist die Sicherheit auch von daher nicht gegeben. Es gibt Selbstmordattentate von Islamisten –
Maryam: Meinst du Daesh? Ja, die Taliban sagen wir kämpfen gegen Daesh, aber wer weiß, wer ist wirklich Daesh? Vielleicht gehört Daesh zu den Taliban. Man weiß es nicht.
NeuLand: Okay. Das heißt auch für die Bevölkerung ist es gar nicht zu überschauen, wer wer ist.
Maryam: Ja, alle möchten nur Ruhe haben…
NeuLand: Langsam wird auch das Essen richtig knapp, oder?
Maryam: Ja, wirklich. In den nächsten Monaten gibt es vielleicht kein Essen mehr und was machen die Leute …
NeuLand: Es wird jetzt auch kalt in Afghanistan?
Maryam: Ja, die müssen jetzt dann für den Winter Holz kaufen. Aber viele Familien haben kein Geld, dass sie Holz kaufen, um sich vorbereiten für den Winter. Afghanistan ist auch ein bergiges Land und es wird richtig kalt.
NeuLand: Es gibt ja auch Schnee, wie wir wissen… Die Skifahrer konnten übrigens das Land verlassen.
(Letztes Jahr haben Maryam, ihre Tochter Setayesh und ich zusammen den Film »Where the light shines« von Daniel Etter über eine Gruppe junger Männer aus Bamiyan angesehen, die das Skifahren erlernt haben und von denen zwei nach St. Moritz zum Auswahltraining für die Olympischen Spiele zugelassen wurden. Sie haben es nicht geschafft, aber sie haben in den afghanischen Bergen einen Skilift gebaut und einen Skiverleih eingerichtet. Sogar Frauen sind fröhlich die Berge hinunter gesaust. Unvorstellbar unter einer Taliban-Regierung! Maryam möchte wissen, ob sie mit ihren Familien geflüchtet sind. Ich kenne den Journalisten, der Regie geführt hat und verspreche nachzufragen)
NeuLand: Wie war das für dich: warst du überrascht über die Ereignisse im August?
Maryam: Ja, ich war natürlich total überrascht. Nicht nur ich, wir haben nie gedacht, dass nochmal passiert so eine Situation für Afghanistan. Wir waren alle schockiert. Taliban waren schon die letzten Jahre dabei in Afghanistan, aber sie waren nicht in der Regierung, aber jetzt im August auf einmal, also Aschraf Ghani, der Präsident, hat Afghanistan – er hat mit Absicht das gemacht, genau. Er hat das mit Absicht gemacht.
NeuLand: – das Land verlassen. Im Stich gelassen.
Maryam: Auch die Leute im Stich gelassen und das Land mit seinen zwei Händen den Taliban gegeben. Er hat das mit Absicht gemacht. Er hatte früher schon Pläne, aber niemand wusste das.
NeuLand: Und warum?
Maryam: Ich denke vielleicht, er ist selbst ein Paschtune, er wollte, dass die Taliban, die auch Paschtunen sind, mit der Hilfe von Pakistan in die Regierung kommen und bleiben.
NeuLand: Und hofft er selbst wieder zurückzukommen?
Maryam: Ja, er sagt so.
NeuLand: Worauf führst du es zurück, dass die Taliban so schnell das Land erobern konnten? Ist es der Fehler der Westmächte, der Amerikaner, der Deutschen, auch der Franzosen, die schon 2014 abgezogen sind? Haben die praktisch das Land im Stich gelassen?
Maryam: Ich denke, das war schon ein Plan, aber das war nicht der Plan für August. Ich denke, wir denken, dass Aschraf Ghani doch das Land den Taliban geben wollte, aber nicht jetzt im August. Ich denke, natürlich arbeitet Aschraf Ghani mit Amerika. Er hat dort studiert. Die haben schon früher diesen Plan gemacht und ja, Aschraf Ghani hat das im August gemacht und hat das Land verlassen und ist nach Dubai gegangen.
Ich: Der Plan bestand. Das heißt, er hatte die Armee schon informiert.
Maryam: Ne, die Armee wusste auch nichts. Wir denken, wir Afghanen denken, dass es die Armee auch nicht wusste. Aber in diesen Tagen wollte Aschraf Ghani wollte seinen Plan durchführen und hat der Armee gesagt, sie sollen gar nichts machen. Deshalb hat die Armee nichts gemacht, obwohl wir eine gute Armee hatten. Die haben sich in den letzten 20 Jahren schon sehr gut vorbereitet.
NeuLand: Sie wurden sozusagen zum Stillhalten gezwungen.
Maryam: Ja. Das kam vom Präsidenten. Deshalb haben sie gar nichts gemacht.
NeuLand: Das war bei uns die Überraschung, dass die von Westmächten gut ausgebildete Armee einfach flüchtet oder nicht kämpft. Das heißt, die wussten nicht Bescheid, sondern es wurde ihnen gesagt, sie sollten stillhalten?
Maryam: Sie haben Bescheid bekommen, dass sie nicht kämpfen. Deswegen sage ich, der Präsident hat sein Land mit seinen zwei Händen – so bitte schön, da ist unser Land für sie(macht die Geste) – er hat das mit Absicht gemacht. Wir denken alle, das war schon sein Plan. Bei der Konferenz in Doha haben sie alles geplant, aber die Armee wusste nichts.
NeuLand: Diese Armee hat nicht die Führung, von der man erwarten könnte, dass sie die Macht übernimmt.
Maryam: Ich glaube, sie waren schon eine starke Macht. Die Taliban waren am Anfang nicht so viele. Sie konnten schon kämpfen gegen die Taliban. Sie haben die letzten Jahre gegen die Taliban gekämpft in Kandahar und anderen Städten. Aber wie gesagt, in den letzten Tagen im August haben sie den Befehl bekommen, dass sie nichts machen.
NeuLand: Du glaubst nicht, dass sich die Armee jetzt noch gegen die Taliban wehren kann? Wahrscheinlich haben sie ihre Waffen schon verloren.
Maryam: …verloren, ja. Und wer ist da geblieben? Viele Generale und Leute, die in hohen Stellungen waren, sind weggebracht worden. Die Taliban suchen die Leute, die früher in der Armee waren und wichtig waren, die suchen die Familien dieser Menschen oder sie selbst, damit sie die töten.

NeuLand: Was für eine Möglichkeit gibt es jetzt überhaupt noch? Siehst du die Möglichkeit, dass es doch genug Druck gibt von den Westmächten, über das Einfrieren von Geldern z.B., dass die Taliban zu einer Art von Vernunft kommen oder siehst du das als unmöglich? Aus westlicher Sicht sind das Verrückte, aber das ist ja vielleicht aus eurer Sicht nicht ganz so extrem, oder?
Maryam: Die sind wirklich verrückt. Und sie lügen. Sie sagen z.B. in einem Interview mit Journalisten eines anderen Landes: wir haben kein Problem, wir können gut klar kommen, aber es ist nicht so. Die Leute haben keine Freiheit, dass man sagt, was man sagen möchte … Demokratie…
NeuLand: Es gibt keine Redefreiheit…
Maryam: Genau. Die sind wie Diktatoren. Man kann nicht frei reden und man kann nicht frei seine Religion haben. Zum Beispiel sind die Taliban gegen die Hazara und haben deswegen in den letzten Wochen dem Hazara Volk, das in einer bestimmten Region lebt oder in einer Stadt, sie haben ihnen eine Frist gegeben, in vier, fünf Tagen, zwei Wochen, umzuziehen. Sie wissen nicht wohin, sie müssen ihre Wohnung verlassen. Ihre Höfe, ihre Wohnungen, sie müssen ihren Besitz, alles verlassen. Zum Beispiel in Daikondi, das ist eine Stadt und in noch 2, 3 anderen Städten haben sie den Hazara gesagt, sie müssen das Land verlassen. Warum? Die haben andere Religion und die sind von einem anderem Volksstamm. Also die Taliban sind gegen alle anderen Volksgruppen in Afghanistan, gegen Tadschiken, gegen Usbeken,vor allem gegen die Hazara. Deswegen sind jetzt für Hazara diese zwei Monate noch schlimmer.
NeuLand: Wie geht es den Frauen jetzt?
Maryam: Die sind sehr mutig, sehr stark. Auf der Straße demonstrieren sie ständig. Die möchten ihre Rechte haben, Frauenrechte, Arbeitsrechte, ich hoffe, das bringt was. Man weiß nicht, ob das etwas bringt. Die Taliban meinen, Frauen müssen zuhause bleiben. Es arbeiten jetzt nur die Krankenschwestern und Ärztinnen. 70.000 Lehrerinnen sind arbeitslos geworden.
NeuLand: Und die Kinder?
Maryam: Die Schulkinder – die Jungs können normal zur Schule gehen, aber Mädchen nur bis zur6. Klasse. Ab der 7. Klasse dürfen sie nicht zur Schule gehen.
NeuLand: Also deine Tochter Setayesh(sie ist 13 und geht seit September in die 7. Klasse) müsste jetzt die ganze Zeit zu Hause bleiben.
Maryam: Ja, wenn wir jetzt in Afghanistan wären, müsste meine Tochter Setayesh zuhause bleiben. Aber die sind so schlau. Also in den letzten Wochen, habe ich schon gelesen, dass die Mütter und Väter vorbereitet haben, dass die Mädchen geheim im Keller zusammen lernen.
NeuLand: Aber das ist schwierig, ohne finanzielle Mittel, ohne Papier, ohne Bücher…
Maryam: Die sitzen auf dem Boden. Aber trotzdem: sie machen weiter.
NeuLand: Siehst du irgendeine Möglichkeit, was jetzt von uns aus, vom Westen aus getan werden könnte? Was wäre eure Hoffnung?
Maryam: Unsere Hoffnung ist, dass sie nicht mit den Taliban zusammen arbeiten. Dass die Taliban nicht anerkannt werden.
NeuLand: …was bedeutet, dass man die Gelder, die früher geflossen sind, weiterhin einfriert, was bedeutet, dass das Volk leidet, nichts zu essen hat. Das ist schwierig.
Maryam: Schwierig. Aber wenn die zusammenarbeiten, dann bleiben die Taliban für immer an der Regierung. Also – für immer – man kann nicht sagen, man weiß es nicht, was in 5 Jahren oder in 3 Jahren oder in 10 Jahren passiert, aber bestimmt bleiben sie dann wieder lange Jahre an der Regierung.
NeuLand: Und sie haben ja eine Geisel – sie haben das ganze Volk als Geisel. Deswegen ist es so schwierig jetzt zu sagen, dass man sie nicht anerkennt, natürlich, andererseits gar nicht mit ihnen sprechen und verhandeln, ist auch wieder für das Volk nicht gut. Schwierig… Und noch einen Krieg will niemand!
Maryam: Nein, keinen Krieg, Opfer sind nur wieder normale Leute. Einfach normale Leute werden Opfer, wie jetzt auch. Einfach nur durch die Spiele von Politikern.
NeuLand: Gibt es eine Partei oder irgendeine Gruppe, von der man sagen kann, die könnten die Macht gegen die Taliban übernehmen, von denen man annehmen könnte, wenn man sie z.B. mit Geld ganz stark unterstützt, die könnten es machen?
Maryam: Als die Taliban nach ganz Afghanistan gekommen sind, gab es schon Ahmad Massoud (Anm. d. Red : Sohn des umstrittenen Ahmad Shah Massoud, genannt: »Löwe von Pandschir«, maßgeblich beim Abzug der sowjetischen Besatzer und am Sieg über die Taliban beteiligt. Zwei Tage vor dem 11. September 2001 starb er bei einem Attentat.) Ahmad Massoud von den Tadschiken und General Abdul Ghani Alipur vom Hazara Volk, aber Alipur kämpft schon seit Jahren gegen die Taliban, gegen die Paschtunen. Die sind auch ein bisschen schwach, glaube ich, die haben nicht genug Waffen oder die brauchen auch Geld, um zu kämpfen, Essen und andere Sachen. Aber manche meinen auch, wir müssen noch warten, wir können nicht einfach gegen die Taliban kämpfen, denn die Opfer sind natürlich nur die normalen Leute.
NeuLand: Ist jetzt für dich ein Traum zu Ende, der Traum, mal in ein friedliches, schönes Afghanistan zurückzugehen? Oder träumst du weiter?
Maryam: Ich träume weiter! Natürlich! Das ist nicht das Ende von meinem Land! Es ist schon passiert, aber man weiß nicht, wie lange die Taliban an der Regierung bleiben. Wir hoffen, dass sie bald weggehen. Durch irgendeine Sache, irgendeine Politik oder irgendwas – dass sie rausgehen und dass die Leute oder das ganze Land wieder ein normales Leben haben.
NeuLand: Du glaubst also daran, dass in diesem Land die Fähigkeiten da sind und der Wille, ein richtig gut entwickeltes Land zu sein?
Maryam: Schau mal, zum Beispiel jetzt ist es verboten, dass Mädchen zur Schule gehen, aber was haben die Leute gemacht? Sie haben Schulen im Keller. Das zeigt, wie bereit die Menschen sind, wie das in den letzten 20 Jahren war, diese Entwicklung. Natürlich, die Leute möchten wie die ganze Welt leben, genau wie diese sein. Aber wie gesagt, die Regierung macht es schwierig für die normalen Leute. Und: Die Amerikaner haben andere Pläne für Afghanistan Sie haben das Land absichtlich verlassen. In Übereinkunft mit dem Präsidenten Aschraf Ghani Ahmadsai und den Taliban. Die Taliban werden von Pakistan und den USA unterstützt, um den Iran und Russland zu kontrollieren.
NeuLand: Hat Afghanistan Bodenschätze?
Maryam: Ja, sehr viele, Gold! Kupfer, Lithium, Eisen, Kobalt, Gas, Öl, Eisenerz.
NeuLand: Also du träumst weiter. Es muss ja ein landschaftlich sehr schönes Land sein und es wird auch wieder ein erholtes Land sein. Und dann wirst du mit deiner Tochter vielleicht wieder hingehen oder zumindest kurz oder für immer dort leben?
Mayryam: Schaun wir mal, was passiert in der Zukunft, aber ich möchte unbedingt mit meiner Tochter, also der ganzen Familie einmal hingehen, dass ich unser Land meiner Tochter zeige. Sie wollte auch unbedingt – wir wollten nächstes Jahr nach Afghanistan fliegen, einmal, also bevor die Taliban kamen. Wir haben überlegt… Naja, aber mit dieser Situation, jetzt können wir nicht zur Zeit. Die Zukunft entscheidet – Inschallah.
NeuLand: Vielen Dank, Maryam für deine Offenheit!