Wie schaffe ich das?

Ich komme aus Sierra Leone, ich bin 22 Jahre alt und habe einen Sohn, den ich alleine erziehe. Er heißt P. und ist vier Jahre alt. Meine Familie habe ich im Krieg in Sierra Leone verloren. Mit sieben Jahren gelangte ich nach Guinea, mit 17 Jahren floh ich alleine nach Deutschland. Immer frage ich mich: Wie kann ich das alles schaffen mit der Schule und dem Kind? Ich möchte die deutsche Sprache besser lernen, eine Berufsausbildung machen – und für meinen Sohn eine gute Mutter sein! Seit fünf Jahren bin ich in München. Als ich ankam, konnte ich nur ein deutsches Wort sprechen: Flüchtling. Ich konnte mich gut in der franzö- sischen Sprache ausdrücken, aber kaum lesen und schreiben. Im ersten Jahr, zwei Wochen nach meiner Ankunft, bin ich schwanger geworden. Ich war immer krank, ich konnte nicht in die Schule gehen. Nachdem mein Kind geboren war, musste ich sechs Monate zuhause – das heißt: in der Flüchtlingsunterkunft – bleiben.

Dann besuchte ich nachmittags eine Schule, in die ich mein Baby mitbringen konnte. Mein Baby war im 2. Stock und wurde dort betreut und ich habe im 3. Stock gelernt. Sehr oft haben sie mich gerufen: „Ihr Kind weint, bitte kommen Sie…“ Es war so viel Stress! Ich habe auch viel geweint. Sechs Monate lang habe ich die Deutschkurse A1 und B1 besucht – und ich habe sie beide gut geschafft! Immer habe ich gewusst: Ich muss es schaffen!

Mit elf Monaten kam mein Sohn in die Kinderkrippe und ich konnte mit weniger Stress in die Schule gehen. Ich stehe morgens um sechs Uhr auf und mache mich fertig; dann wecke ich P., wasche ihn und ziehe ihn an. Nach einem kleinen Frühstück laufen wir zum Bus und dann zum Kindergarten. Um spätestens 7.30 Uhr muss mein Sohn dort sein. Ich renne dann zur U-Bahn, ich muss sie um 7.50 Uhr erreichen, damit ich rechtzeitig in der Schule in Giesing ankomme. Nach der Schule beeile ich mich, meinen Sohn rechtzeitig vom Kindergarten abzuholen. Manchmal sagt die Erzieherin: „Ihr Sohn hat das und das gemacht…“. Das macht mich sehr traurig. Auf dem Heimweg kaufe ich ein, dann koche ich und spiele mit P.. Er ist so ein lustiger und fröhlicher Junge, und immer so aktiv! Wir lachen sehr viel. Um 20 Uhr bringe ich ihn ins Bett, wir reden noch miteinander, ich singe und bete mit ihm. Ich bin sehr müde, aber ich muss noch verschiedene Dinge im Haushalt erledigen und dann lernen. Ich lerne jeden Abend bis tief in die Nacht hinein. Ich habe keine andere Wahl. Ich muss die Schule schaffen!

Von September 2015 bis Juli 2017 habe ich die Städtische Berufsschule zur Berufsvorbereitung in der Balanstraße besucht (1). Hier kann man den Mittelschulabschluss machen. Das erste Schuljahr war sehr anstrengend. Ich musste so viel lernen und hatte keine Hilfe. Alles musste ich alleine bewältigen: die Betreuung für meinen Sohn, den Haushalt und die Schule. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, wie schwierig es ist, in Deutschland ein Kind aufzuziehen. Man muss so viel planen und organisieren! In Afrika ist das kein Problem! Immer sind Menschen da, die sich um die Kinder kümmern und helfen: Oma und Opa, Geschwister, Tanten, aber auch die Nachbarn.

Illustration: Elena Buono

Alle freuen sich, wenn ein Kind geboren wird, denn Kinder bringen Glück und: Jedes Kind bringt etwas Neues in die Welt. Als P. in den Kindergarten kam, habe ich sehr gelitten, weil ich die deutsche Sprache noch nicht so gut konnte und mein Sohn natürlich auch nicht. In Frankreich wäre das easy, ich spreche ja – wie gesagt – gut französisch! Hier habe ich Probleme mit der Sprache, zum Beispiel, wenn ich Lebensmittel einkaufe: Alles muss ich im Supermarkt genau lesen, ob Schweinefleisch enthalten ist oder nicht. Wie soll ich wissen, dass in Gelatine Schweinefleisch enthalten ist? Wenn ich nur für mich einkaufen würde, dann wäre mir das egal. Wie soll ich wissen, was gesund ist für mein Kind? Es gibt so viele Sachen im Supermarkt! Jeden Tag muss ich denken: Was ist gut für mein Kind?

Im Supermarkt ist es passiert, an der Kasse. Irgendwie hat mein Kind einen älteren Mann nebenan berührt oder angefasst, ich weiß es nicht genau. Jedenfalls sagte der Mann mit einer bösen Stimme: „Fass mich nicht an!“ Ich könnte noch einige Sachen erzählen, die mich sehr traurig machen und damit zusammenhängen, dass mein Sohn und ich eine schwarze Hautfarbe haben. Trotz aller Schwierigkeiten: Ich habe das schwere erste Schuljahr geschafft – und sogar mit sehr guten Noten! Im zweiten Schuljahr haben mir meine Lehrer geraten, die Schule mit dem „Quali“, das ist der qualifizierende Abschluss der Mittelschule, abzuschließen. Damit habe ich mehr Chancen im Beruf. Ich habe mir aber sehr große Sorgen gemacht: Was ist, wenn mein Sohn einmal krank wird und ich die Schule unterbrechen muss? Wer würde mir helfen? Das Jugendamt unterstützt mich finanziell, dafür bin ich so dankbar! Ich habe auch eine gute Betreuerin vom Jugendamt, die immer wieder nach mir und auf meinen Sohn schaut. Ich bekomme auch viel Hilfe von meiner Freundin Sara. Sie ist in meinem Alter, hat eine Tochter und ist alleinerziehend wie ich. Sie hat bereits eine Arbeit gefunden. Wir helfen uns gegenseitig: An einem Wochenende ist ihre Tochter bei mir, an einem anderen mein Sohn bei ihr. Die Kinder sind fast wie Geschwister. Das macht mich sehr glücklich. Dann habe ich seit einem guten Jahr eine deutsche ehrenamtliche Oma. Sie wurde uns von der Hilfsorganisation Refugio vermittelt. Wir sagen alle „Inga-Oma“ zu ihr. Ich habe Vertrauen zu ihr. Sie holt meinen Sohn an bestimmten Tagen vom Kindergarten ab und ich kann unbeschwert in der Schule sein. Und wenn sie und P. zwei oder meistens drei Stunden auf dem Spielplatz sind, dann habe ich freie Zeit und kann mich erholen: Ich kann in Ruhe aufräumen, putzen, waschen, vorkochen für die nächsten Tage. Oder ich lege mich einfach hin und schlafe. Oder ich wasche mir die Haare und flechte schöne Zöpfe. In den letzten Monaten aber habe ich in meiner freien Zeit ganz viel für einen guten Schulabschluss gelernt, zusammen mit Elisabeth, meiner ehrenamtlichen Nachhilfelehrerin. Heute kann ich sagen: Ich habe viel Hilfe bekommen und im Juli 2017 mit einem guten Ergebnis den „Quali“ tatsächlich geschafft!

Jetzt ist mein Ziel eine gute Berufsausbildung. Ich möchte eine Lehre machen, z.B. als Tourismuskauffrau oder Kauffrau im Groß- und Außenhandel. Ich kann sehr gut organisieren, bin sehr motiviert und kann gut mit Menschen umgehen. Meine Schul- und Praktikazeugnisse sind ausgezeichnet. Seit dem Frühjahr habe ich mich bei einigen Firmen beworben. Ich vermute, dass die Ablehnungen bisher mit der Sorge um die erforderliche Arbeitszeit zusammenhängen. Als alleinerziehende Mutter möchte ich mich nun bemühen, eine Ausbildung auf Teilzeitbasis zu finden. Eines Tages werde ich es auch in München schaffen, für mich und meinen Sohn für unseren Lebensunterhalt zu sorgen.

 

 (1) Anmerkung der Redaktion: Damals war die Schule dort noch eine Filiale der Berufsschule zur Berufsintegration am Bogenhauser Kirchplatz. Inzwischen ist sie eigenständig.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.