»Wegen meiner Arbeit war ich gezwungen, zu fliehen«

Es ist nicht so einfach, das Stadtcafé zwischen Stadtmuseum und Synagoge ausfindig zu machen. Gut dass es Mobiltelephone gibt. Raphael aus Tanzania ist kurz vor Beginn der Pandemie nach Deutschland gekommen. Er ist noch nicht geimpft und er zieht den Innenhof des Cafés für unser Gespräch vor. Raphael spricht Swahili und Englisch, das in Tanzania erste Fremdsprache ist.

Er sagt, er könne noch kein Deutsch, aber die paar Ausdrücke, die er zwischendurch einwirft, klingen astrein! Raphaels Organisation, OPCA, kümmert sich um Menschen, die mit dem Rechtssystem in Konflikt geraten oder aus irgendwelchen Gründen nicht unterstützt oder sogar verfolgt werden.

Über diese Arbeit wollen wir uns unterhalten.

Schön dich kennenzulernen! Du hast die Organization For Prompting Community Action (OPCA) mitgegründet. Was ist das für eine Organisation und wie bist du auf die Idee gekommen?

Die Idee war, Menschen zu helfen, Migranten, Frauen, Menschen mit Behinderung, der LGBT Community. Aber ich bin dazu gekommen, weil ich die Vorgänger Organisation geleitet habe. Als die sich auflöste, beschloss ich die neue zu gründen, um weiter Kinder, Frauen, die LGBT-Community natürlich und Analphabeten dabei zu unterstützen, einfachen Zugang zum Rechtssystem zu bekommen.

Was war deine Motivation?

Ich denke, die Motivation ist, die Gemeinschaft zu unterstützen, denn die meisten afrikanischen Länder sind arm und das System oder die Regierung selbst sind korrupt, so dass eine große Gruppe zurückgelassen wird, die Hilfe braucht. Wir, als in Tanzania offiziell eingetragene Organisation, sehen das als Gelegenheit, unsere Gemeinschaft, das soziale Umfeld zu unterstützen.

OPCA hat ihren Sitz in Dar es Salaam?

Ja, es ist in Dar es Salaam, aber wir arbeiten in ganz Tanzania, außer auf der Insel Sansibar, aber wir werden die Möglichkeit haben, auch dort zu arbeiten. Momentan arbeiten wir in ganz Tanzania von Dar es Salaam aus.

Dar es Salaam ist eine große und reiche Stadt, oder?

Ja, man kann sagen, es ist ein Wirtschaftsstandort, aber es gibt noch die Hauptstadt Dodoma, die sehr teuer und groß ist.

»Und es gibt hier Redefreiheit,
in wirklich praktizierter Form.«

Es wäre interessant, etwas über dich zu erfahren: wie war deine Kindheit, was hast du gearbeitet?

Meine Jugend bis jetzt war wirklich toll und, ich meine, ich habe jeden Tag etwas gelernt. Ich komme aus einer sehr reichen und politischen Familie, aber als Einzelperson und in Zusammenhang mit meiner Arbeit habe ich einen Weg in Opposition zur Auffassung meiner Familie und der der Regierung gewählt. Sie denken, ich bin in der Oppositionspartei, aber das bin ich nicht. Ich versuche meine Arbeit zu machen, für die Menschen, die Hilfe brauchen.

Ist es nicht schwierig, eine Arbeit zu machen, mit der die Familie nicht einverstanden ist?

Ja, es ist sehr schwierig und ich muss sehr stark sein, aber ich bin so ein Mensch, der tun möchte, was er tun muss. Nicht unter Druck von Gesetz oder Freundschaft oder familiären Folgen.

Meiner Information aus Wikipedia nach ist Tanzania eine demokratische Republik – stimmt das nicht?

Es stimmt schon, aber nicht alle Mitglieder der Regierung, nicht das ganze System ist so, wie es sein sollte. Ich kann sagen, die Führung ist in Ordnung.

… und die Präsidentin ist eine Frau!

Ja, stimmt, haha, aber ich denke, so wie es ist, ist okay für jetzt, aber es muss noch immer besser werden für unsere Gesellschaft.

Das bedeutet, du bist in deiner Arbeit frei …

Ich denke, jeder ist frei, bei egal welcher Arbeit, aber das Problem ist, dass es nicht für alle genug Freiheit gibt. Wir haben diese Erfahrung gemacht mit unserem früheren Präsidenten für fünf Jahre, Magufuli, aber jetzt gerade wird es besser. Wir werden sehen, wie es in den nächsten 4, 6, 10 Jahren wird.

Die OPCA ist eine Nichtregierungsorganisation nach tansanischem Recht. Sie setzt sich vorrangig für Menschenrechte ein, insbesondere für Analphabeten und benachteiligte Personen aus Gruppen wie LGBTIQ, Kinder, Frauen, Behinderte. Sie möchte den Benachteiligten den Zugang zur Justiz erleichtern.
Ihr Ziel ist es, den Fortschritt der Gemeinschaft bei der Erreichung eines besseren Lebens: in der Wirtschaft, einer besseren Gesundheit, Bildung und wirtschaftlicher Stabilität durch soziale Dienste, Ausbildung und Rechtshilfe. Die Grundwerte der Organisation beruhen auf Integrität, Respekt, harter Arbeit, Disziplin und Transparenz.

Zur OPCA-Website

Was denkst du, ist das Hauptproblem für deine Gemeinschaft?

Aktuell ist das Hauptproblem die Redefreiheit, aber auch das Erziehungssystem für das ganze Land. Ich denke, die Mehrheit kann arbeiten und braucht keine Unterstützung von der Regierung und wir glauben, dass nach der Unabhängigkeit vor fast 60 Jahren fast jeder einfachen Zugang zum Rechtssystem hat, besonders auch Frauen, aber wir denken, das Gesundheitswesen muss wirklich verbessert werden, für alle, meine ich. Aber zur Zeit sieht es so aus, dass arme Menschen, besonders auf dem Land, benachteiligt sind. Schwangere Frauen müssen unter Umständen große Entfernungen zurücklegen, um Hilfe zu bekommen und Kinder müssen lange Wege in die Schule bewältigen, was –

… gefährlich ist?

Ja, es ist schwierig und gefährlich, besonders für Mädchen.

Und du selbst bist in Dar es Salaam zur Schule gegangen?

Ja. Also meine Vorfahren kommen aus Sansibar, aber ich bin in Tanga geboren und aufgewachsen, aber dann bin ich zum Studium und zum Arbeiten nach Dar es Salaam gegangen.

Wann und weshalb bist du nach Deutschland gekommen?

Ich bin Tanzanier und mag Tanzania sehr, aber wegen meiner Arbeit war ich gezwungen zu fliehen, um sicher zu sein, wegen der Arbeit, die ich vorher gemacht habe und jetzt mache. Die Regierung, Familie und einige der führenden Persönlichkeiten denken, ich sei ihr Gegner, was nicht stimmt. Deshalb musste ich fliehen. Also, ich habe nicht geplant, nach Deutschland zu kommen, ich wollte nur irgendwohin, wo ich sicher sein würde und meine Arbeit tun könnte, ja? Und ich wäre sehr glücklich, wenn ich meine Arbeit hier in München weiter tun könnte. Aber wenn du mich so fragst, wäre ich lieber nach England, Irland oder vielleicht in die USA gegangen, in irgendein Land, wo man englisch spricht. Es ist schwierig, nicht nur deutsch zu lernen, sondern überhaupt neue Sprachen und Kulturen, neue Milieus, neue Leute kennenzulernen.

Wie kann man sich deine Arbeit von hier, von Deutschland aus, vorstellen?

Ich denke, sie wird sehr frei, sehr einfach sein. Nach dem was ich bisher herausgefunden habe, bekommen andere Organisationen Unterstützung vom Staat. Ich meine, wie haben das auch in Tanzania, aber hier gibt es mehr Möglichkeiten, besonders Unterstützung in Rechtsfragen. Und es gibt hier Redefreiheit, in wirklich praktizierter Form. Und wenn wir gemeinsam die Stimme erheben, besteht die Chance, dass unsere Gemeinschaft gehört wird.

Du sprichst von »wir« – hast du Kontakte zu Mitbürgern aus deinem Land?

Nicht viel, aber ich versuche mehr Kontakte zu bekommen und ich habe schon positive Rückmeldung bekommen. Das habe ich immer gesucht und es ist sehr wichtig für mich und meine Kollegen.

Was würdest du gerne noch erzählen?

Ich bin hier um meine Arbeit zu machen, deshalb bin ich geflüchtet und hierher gekommen. Ich will diese Arbeit nicht nur in Deutschland oder in Europa oder in Afrika machen, sondern überall in der Welt, denn es gibt überall Probleme und Menschen brauchen Unterstützung. Deshalb sind wir sehr froh, hier ein Büro zu haben wie auch in Dar es Salaam und weiter da zu sein für Migranten, Frauen, Menschen mit Behinderung, die LGBT Community – ja.

Also wirst du nicht nur von hier aus arbeiten, sondern um die Welt reisen?

Ja, definitiv.

Und glaubst du, du kannst irgendwann zurück in deine Heimat?

Wenn das Gesetz geändert wird und die LGBT Community ihre Rechte bekommt, kehre ich auch sofort zurück. Momentan kann ich auch nicht auf Besuch nach Hause.

Anmerkung:

Homosexuelle Handlungen sind in Tansania laut Strafgesetzbuch nach den Paragrafen 138a, 154 und 157 illegal. Auf dem Festland gilt das alte Kolonialgesetz, welches für Geschlechtsverkehr zwischen Männernbis zu 14 Jahre Haft als Höchstmaß vorsieht. Der Geschlechtsverkehr zwischen Frauen ist auf dem Festland straffrei.
Die zum Staat Tansania gehörende Insel Sansibar hat eine eigenständige Gesetzgebung, welche seit 13. April 2004 für Männer 25 Jahre Gefängnis vorsieht und für Frauen bis zu 7 Jahre.

Seit 2016 geht die tansanische Regierung laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hart gegen Homosexualität vor. Vor allem in Daressalam und auf Sansibar komme es immer wieder zu Festnahmen angeblich schwuler und lesbischer Menschen.

Antidiskriminierungsgesetze:
Es existiert kein Antidiskriminierungsgesetz in Tansania.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.