Selam – ein herzliches Grüß Gott

Dies ist ein „Selam“-Artikel. Selam ist ein Wort arabischen Ursprungs. Ein Wort im Sinne einer Begrüßung wie „Guten Tag“, „Hallo“, „Grüß Gott“. Aber es hat mehr Bedeutung als nur seine etymologische. Selam bedeutet Frieden und Sicherheit.

Es gab früher ein körperliches Ritual in der Türkei. Wenn jemand zu einer anderen Person Selam sagte, legte er seine Hand zuerst auf sein Herz, dann auf seinen Mund und schließlich auf seinen Kopf. Mit diesem Verhalten wollte man der Person mitteilen, dass die Begrüßung „aus meinem Herzen, meiner Zunge und meinen Gedanken kommen und dir nicht schaden“ wird. Diese Körperbewegung wurde in Zeiten der alten Türken mehr gebraucht, doch nun wird sie nicht mehr benutzt, nur das Wort Selam ist übriggeblieben. Die Krankheiten unseres Zeitalters sind leider Diskriminierung, Rassismus, Polarisierung und Entfremdung. Die Medizin dagegen ist Dialog und Demokratie. Und das beginnt mit Selam.

Mit Selam ist man willkommen, man wird akzeptiert. Wenn jemand mit Selam auf einen zukommt, wird ihm auch mit einem Selam begegnet. Selam ist die erste Brücke, die alle Flüsse, Straßen und alle menschlichen Werte vereint. Der erste Schritt. Die menschliche Natur hat einen Instinkt, gegen Fremdes zu reagieren. Die meisten Menschen sehen Unterschiede als Bedrohung, obwohl es ein Reichtum ist. Trotz dieses großen Vorurteils ist es eine hervorragende Leistung für alle, die aus aller Welt nach Deutschland kommen, in die Herzen der Menschen zu gelangen und Brücken zwischen verschiedenen Kulturen zu bauen. Selam, das ist der Anfang, der Grundstein. Selam ist unser Kapital. Das Kapital derer, die hierherkamen und die Sprache, die Kultur und den Lebensstil nicht kannten.

Und wer bin ich? Ich bin einer von Zehntausenden von Menschen, die in der Türkei illegal von ihrer Arbeit entlassen wurden. Ich bin einer der traurigen Söhne, die von ihren Müttern getrennt wurden. Ich bin einer von Tausenden, die von ihren Freunden und ihrem Umfeld weggerissen wurden. Ich bin einer von hunderten Journalisten, die von einer despotischen Regierung beschuldigt wurden, weil sie einen Artikel geschrieben haben. Ich bin einer der glücklichen Menschen, die ohne Gefangenschaft nach Deutschland kommen konnten. Ich bin einer von Hunderttausenden von Menschen, die aus Gründen ihres Glaubens und ihrer Werte aus ihrem eigenen Land ins Exil vertrieben wurden. Ich bin einer von Tausenden von Leuten, die die Stimme erhoben, während ihr Land in eine Katastrophe geführt wird.

Wie könnte ich bloß schweigen?

Die Türkei ging in ihrer Geschichte öfters durch eine chaotische Zeit. Ich bin einer der Opfer dieser Zeit. Ich lese und schreibe. Ich interessiere mich für alles, was die Menschen und die Welt betrifft. Selbst wenn ich es wollte, wie könnte ich denn bloß schweigen? Wie kann man nur stillstehen, wenn das eigene Land in den Abgrund gedrängt wird? Wie kann man es ertragen, während Tausende von Menschen unter einer despotischen Macht erdrückt, während Millionen von Menschen ihrer Rechte beraubt werden? Und was ist der Sinn des Lebens, wenn wir aufhören, über die Ungerechtigkeit zu sprechen, die andere erlitten haben? Ich bin weder der Erste noch werde ich der Letzte sein. Aber ich bin einer von denen, die für eine Welt kämpfen, in der niemand für seine Meinungen bestraft wird. Ich weiß, ich bin nicht allein, denn ihr seid da. Viele Menschen in der Türkei haben diejenigen kritisiert, die ihr Land verlassen haben und ins Exil ausgewandert sind. Eigentlich hatte ich keine Angst, verhaftet und eingesperrt zu werden. Aber ich wollte kein Gefangener einer willkürlichen despotischen Macht sein, die die Gesetzte und die Menschenrechte verachtet. Und was würde es nützen, ein Gefangener dieser Macht zu sein, außer, dass sie sich daran erfreut. Nun erlauben diese Zeilen es mir, etwas aufzuatmen.

Es gab viel politischen Druck

Die Türkei war auch vor dem 15. Juli 2016 kein demokratiereiches Land. Es gab politischen Druck, gesetzlose Fälle und willkürliche Verhaftungen. Meine Familie und viele meiner Freunde fragten immer, warum ich auf meinen Beruf, den Journalismus, bestand. Ja, es war wirklich gefährlich, Journalismus in einem nichtdemokratischen Land auszuüben. Auf Türkisch gibt es ein Sprichwort, das für diese Situation geeignet ist: „Wenn man einen Hamam (türkisches Dampfbad) betritt, muss man das Schwitzen riskieren.“ Ich verließ mein Land auch in einem heißen August und verließ meine Träume, meine Geliebten. Früher las ich in Büchern oder hörte von Zeugen, wie Schriftsteller und Künstler gezwungen wurden ihr Land nach einem Putsch zu verlassen. Ich dachte an Nazım Hikmet und Sabahattin Ali. Ahmet Kaya kam mir in den Sinn und ich hörte mir seine Lieder an, in denen er sagte: „Woher könnt ihr denn wissen, in was für Schwierigkeiten ich lebe“ und seinem Volk Vorwürfe machte. Ich fragte mich immer, warum er so wütend und beleidigt war. Um das zu verstehen musste ich es erleben. Ich hätte nie gedacht, dass auch ich wenige Tage später ein Flüchtling sein würde, als ich auf meinem Schreibtisch das passendste Foto aussuchte, um die Geschichte von Dutzenden Menschen zu erzählen, die auf der Flucht nach Europa ihr Leben verloren.

Es ist nicht richtig, Leid zu vergleichen

Ich habe immer die Geschichten anderer geschrieben. Ich schätze, jetzt fällt es mir schwer, meine eigene Geschichte zu schreiben. Ich hatte irgendwo gelesen, dass nur 10 Prozent der Journalisten, die aufgrund des politischen Drucks ihr eigenes Land verlassen und in demokratische Länder kommen, ihre journalistische Arbeit wieder aufnehmen. Vielleicht fällt es mir auch schwer, meinen Beruf wegen meiner zurzeit geringen Deutschkenntnisse professionell wiederaufzunehmen, aber diese Zeilen sind ein wertvoller Anfang. Jeder hat seine eigene Geschichte. Jeder kämpft mit seinen Problemen, Verlusten und Beschwerden. Auch ich habe vieles durchgemacht, bis ich in dieses Land kommen konnte. Aber ich bin der Meinung, dass es moralisch nicht richtig ist, Leid zu vergleichen. Vielleicht ist es besser, dieses nur zu teilen. Wenn ihr jedoch mehr darüber erfahren wollt, könnte ich es im nächsten Artikel ausführlicher erklären. Ich bin hier, in meiner neuen Heimat, in einer neuen Geographie, wo ihr schon seit Langem lebt. Ich aber bin neu hier. Ich schreibe diesen Text aus einem entfernten bayerischen Dorf. Aus einem Dorf am Fuße der Berge, in einem Klima, in dem es ziemlich kalt ist, aber in dem ich mich frei fühle und mit verständnisvollen Menschen zusammenlebe. Selam Euch allen.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.