Junger alter Migrant

Meine Familie und ich teilen einen Großteil der Erlebnisse, die von meinen Autorenkollegen hier beschrieben werden. Wir können viel über Flucht und den ständigen Kampf um Anerkennung erzählen; mit dem einzigen Unterschied, dass all das jetzt schon 20 Jahre zurückliegt. Es gibt mir die Möglichkeit die Situation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Seit damals hat sich viel verändert und doch ist vieles gleich. Deutschland ist noch globalisierter als vor 20 Jahren. Es sind Generationen nachgekommen, für die es von Kindheit an das Normalste der Welt war; einen Murat oder einen Ali im Freundeskreis zu haben. Ob das die Gründe für die Unterschiede sind, kann ich nicht sagen, aber auffällig ist die Hilfsbereitschaft, und ich würde noch weiter gehen: die Liebe der Deutschen seinem Nächsten gegenüber. Ohne jede Übertreibung kann ich sagen, dass mich diese unzähligen Aktionen, sei es die Versorgung am Münchner Bahnhof oder das Kleidersortieren in der Bayern-Kaserne stark beeindruckt und inspiriert haben, selbst auch mehr mitzuwirken. Denn das waren Aktionen ohne jeglichen politischen Hintergrund. Sie waren von den Bürgern selbst organisiert und untermauern die These, dass sich in den letzten beiden Jahrzehnten viel zum Guten verändert hat. Klar wurde uns damals auch viel geholfen, aber das waren meist staatliche oder kirchliche Organisationen. Jedoch war damals die erwähnte Hilfsbereitschaft nicht in einem so großen Teil der Bevölkerung wiederzufinden.

Foto: Privat

An dieser Stelle möchte ich eine kurze Anekdote aus meinem Leben erzählen. Eines Morgens, das war circa vor einem Jahr, habe ich auf dem Handy gesehen, dass mich mein Studienkollege Tim um zwei Uhr morgens mehrmals angerufen hatte. Ich habe die Anrufe nicht mitbekommen, da ich beim Schlafen immer den berühmten Flugmodus im Handy eingeschaltet habe. Auf die Frage, was er denn um diese Zeit von mir wollte, antwortete er am nächsten Morgen, er hätte kurz meine Hilfe gebraucht, da er auf einen afghanischen Jungen gestoßen war, der ganz alleine in München war und seine Familie in Berlin suchen wollte. Der Junge sprach kaum Deutsch und war am Josephsplatz verloren und verzweifelt. Er hatte ihn daraufhin mit dem Taxi zum Hauptbahnhof gebracht, zu dem der 14-jährige Junge letzten Endes auch wollte und von Helfern empfangen wurde. Tim und der Afghane haben sich schließlich herzlich verabschiedet. Es gibt bestimmt einige, für die das selbstverständlich sein mag, aber es gibt auch viele, die sich nicht um die Probleme anderer kümmern. Tim jedoch machte das Problem des Jungen zu seinem und verwarf aus Güte die eigenen Pläne.

Auf der anderen Seite gibt es den Gegenpool, nämlich den Rechtsradikalismus. Den gab es auch schon bei unserer Ankunft in Deutschland und den wird es wohl auch immer geben. Dass der Mensch Angst vor dem Fremden hat, ist verständlich und menschlich. Man kann als deutscher Bürger auch mit der Situation überfordert sein, insbesondere bei der vorherrschenden Zurückhaltung der Regierung. Aber dass sich die Angst dann in Aggressionen und mehr noch in kriminelle Handlungen umwandelt, geht nicht. Als Bürger hat man nur einen begrenzten Handlungsspielraum, um dem entgegenzuwirken. Eine Möglichkeit wäre der Dialog. Aufzuzeigen, mit welchen Problemen die Migranten konfrontiert wurden oder warum sie flüchten mussten, hilft den Menschen zu verstehen und Empathie zu empfinden. Meine persönliche Devise, auf die ich keine Richtigkeit beanspruche, ist, den Radikalen so wenig Bühne wie möglich zu geben. Damit ist gemeint, dass eine Demonstration, beispielsweise gegen die AFD, direkt eine Gegenreaktion derer bewirkt. Wenn sich das dann über die Zeit aufwiegelt, kann es zu einer Radikalisierung der Bevölkerung führen, was man vermeiden will. Erstaunlicherweise ist die Angst vor dem Fremden genau in den Regionen am ausgeprägtesten, die am geringsten direkt davon betroffen sind. In stark betroffenen Regionen hingegen, wie hier in Bayern, habe ich festgestellt, dass die Neuzugewanderten in den Dörfern auch als Bereicherung wahrgenommen werden. Als Beispiel wäre da die Gemeinde Reichersbeuern bei Bad Tölz zu nennen. Hier wurden die Migranten schnell in Beruf und Sportverein integriert. Und das zum Vorteil aller Beteiligten. Ähnliches ist mir auch von Trostberg beim Chiemsee bekannt.                      
Ich musste mich beim Schreiben des Artikels stark zusammenreißen, um nicht meinem Unmut über Themen wie Waffenlobbyismus, die Störung des inneren Friedens in vielen Ländern von außen, oder der einheitlichen medialen Berichterstattung der großen journalistischen Medien Luft zu machen. Ich kam aber zu dem Schluss, dass die Auseinandersetzung mit diesen politischen Sachverhalten weder für den Migranten, noch für die übrigen Leser einen großen Nutzen darstellt. Viel wichtiger schien es mir, mit positiven Geschichten positive Gedanken zu erzeugen.

Die Gründe für eine Flucht aus einem Kriegsgebiet liegen auf der Hand. Aber warum Deutschland? Liegt es an den offenen, mütterlich-wirkenden Armen Merkels? Wenn man hört, dass Migranten ihre Kinder in Anlehnung an die „Mutti der Nation“ Angela nennen, dann mag das wohl tatsächlich für den einen oder anderen gelten. Natürlich kann das nicht der Hauptgrund sein. Was bewegt aber einen jungen Syrer, nach Deutschland zu kommen? Um diese Frage zu beantworten, würde ich gerne klären, was der Mensch überhaupt will und dafür ein Zitat aus der Titelseite der ersten NeuLand-Zeitung heranziehen: „Jeder hat einen Traum und jeder will etwas aus seinem Leben machen, denn jeder ist Teil dieser Welt. Doch hat jeder die Möglichkeit?“ In einem Land mit zerstörter Infrastruktur, in einem Land wo der Krieg tobt und man Angst um sein Leben haben muss, sind diese Möglichkeiten gewiss nicht gegeben. Aus meinen persönlichen Erfahrungen kann ich sagen, sie tun gut daran nach Deutschland zu kommen. Mein Vater hat zwar nach all diesen Jahren immer noch in manchen Punkten seine kulturellen Anpassungsschwierigkeiten. Aber er hat uns seit jeher gepredigt, wie dankbar wir Deutschland sein sollen. Wir haben als sieben-köpfige Familie Obdach bekommen, wir haben die Chance bekommen die allgemeine Hochschulreife zu erhalten und einen akademischen Abschluss zu erreichen oder kurz gesagt: in Deutschland bewertet die überwiegende Mehrheit nicht die Hautfarbe, sondern die Leistung. Und das ist viel wert. Die vielfältigen Möglichkeiten in Deutschland geben den Menschen also Hoffnung und das ist, was Kriegsflüchtlinge am meisten brauchen.

Nichtsdestotrotz gibt es nicht wenige, die den Migranten gegenüber negativ eingestellt sind. Und ja, auch ich hatte meine Zweifel ob der großen Anzahl an Flüchtlingen. Aber man muss den Leuten erst einmal die Chance geben, an der Gesellschaft zu partizipieren, um sich selbst positiv einzubringen. Der Kollege Adnan Albash beschrieb bereits in der letzten Ausgabe die Dimensionen und Folgen der Bürokratie für Migranten. An der Stelle muss man eine Sache klar betonen: Wenn ein Mensch, unabhängig vom Herkunftsland oder der Kultur, mehrere Jahre zum Nichtstun verdammt ist, dann wird er irgendwann zwangsweise auf die schiefe Bahn geraten. Auch Gespräche mit Migranten zeigen mir, dass diese oftmals jungen Menschen voller Ehrgeiz und Elan in Deutschland ankommen. Der Wille etwas aus sich selbst zu machen, treibt sie an, bis die erwähnte lähmende Hand der Bürokratie diesen erstickt.

Sprach- und Kennenlernkurse sind ein guter Anfang, aber der nächste Schritt, nämlich die Integration in die Berufswelt, könnte deutlich vereinfacht und damit beschleunigt werden. Ich kenne kaum einen Migranten, der nicht arbeiten will. Sie wollen eine Beschäftigung, sie wollen die sprachlichen Fähigkeiten weiter verbessern und sie wollen ihre neue Existenz auf einem stabilen Fundament errichten, wofür ein regelmäßiges Einkommen nie verkehrt sein kann. Den unzähligen Kleinunternehmern, die händeringend nach Arbeitskräften suchen, wäre auch geholfen. Klar darf man nicht so naiv sein, zu denken, dass das Eine die direkte Lösung für das Andere wäre. Viele Steine stehen einer Einstellung im Weg. Hervorzuheben wäre da die Sprachbarriere. Ein Bauunternehmer hat mir aber mal gesagt, dass man diesen Schritt einfach mal wagen muss. Sie haben einen afghanischen Migranten mit starken Sprachproblemen eingestellt. Der Junge entwickelte sich gut und übernahm innerhalb kürzester Zeit große Verantwortung auf den Baustellen.

Abschließend möchte ich eine Frage aufgreifen, die man als Migrant, der schon lange in Deutschland lebt, oft zu hören bekommt: „Fühlst du dich als Deutscher oder als Afghane?“ Meistens ist es nicht leicht, diese Frage zu beantworten. Bevor eine Antwort gefunden werden kann, muss eine Selbstreflexion stattfinden. Da ich schon immer ein Pragmatiker war, habe ich diese Fragestellung auch aus pragmatischer Sichtweise betrachtet. Ich habe mir die Gegenfrage gestellt: Wozu überhaupt diese Frage? Hat es für irgendwen einen Nutzen? Bringt es mir etwas, zu wissen, dass ich 70% deutsch und 30% afghanisch bin oder andersrum? Diese Fragen sind überflüssig, denn in dieser globalisierten Welt ist ein Schwarz-Weiß-Denken veraltet.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.