In Afrika gibt es keine Einsamkeit

Ich bin 28 Jahre alt und lebe seit zwei Jahren in Deutschland. Von Beruf bin ich Krankenschwester. Geflohen bin ich aus politischen Gründen, wegen Problemen, die mein Leben gefährdet haben: Folter, Bedrohung, Schikane. Zu fliehen war die einzige Möglichkeit, mein Leben zu retten. Deshalb bin ich in Deutschland. Was mir hier in Deutschland vor allem ins Auge gesprungen ist, das ist die Einsamkeit, die das Leben der Menschen beherrscht: es gibt kein gemeinschaftliches Zusammenleben, jeder für sich, Gott für uns alle. In Afrika ist es das Gegenteil davon: In Afrika gibt es keine Einsamkeit, wir leben in einer gemeinsamen Harmonie zusammen. Wir sind wie eine Familie: die Familien deiner Nachbarn können zu dir kommen, wir spielen, essen, plaudern und lachen zusammen. Wenn du ein Problem hast, kannst du es mit den Nachbarn teilen, man unterstützt sich.

Es gab einmal eine Zeit, da hatten wir – meine Mutter, meine Schwestern und ich – nichts. Da haben unsere Nachbarn uns alles gegeben: Gemüse, Öl. Ohne Probleme. Die Familie, das sind die Leute, die zusammen leben. Wenn deine (biologische) Familie fern ist, sind deine Nachbarn deine Familie. Es gibt dort eine Harmonie. Nicht nur in den Dörfern ist das so, auch in den großen Städten wie in Kinshasa.

Im Kongo respektiert der Staat nicht die Rechte der Menschen. Deshalb müssen wir unsere Probleme unter uns regeln, ohne Konflikte. Und was die Kinder betrifft: Sie respektieren uns als ihre Eltern, egal ob es die Nachbarskinder sind oder meine eigenen, und ich kann sie auch mal ausschimpfen. Wenn eine Nachbarin, die ich kenne, mein Kind schlägt, sage ich nichts, weil ich weiß, dass sie das tut, um das Kind zu korrigieren. Wenn ich ein Kind bestrafe, dessen Mutter mich nicht kennt, muss man eben miteinander diskutieren. Aber wenn die Mutter mich kennt, weiß sie, dass ich es zum Besten des Kindes tue. Zu denen, die sich mit den Alten befassen:

In Deutschland lassen die Kinder ihre alten Eltern allein. Bei uns dagegen sind die Alten immer umgeben von Kindern und Enkeln, egal ob blutsverwandt oder nicht: du kannst mit ihnen (den Alten) spielen, sie necken, mit ihnen lachen. Ich hatte so eine Großmutter (die biologische Großmutter meiner Freundin): wir haben sie zum Lachen gebracht und sie hat uns Geschichten erzählt und uns Ratschläge fürs Leben gegeben, z.B.: „Arroganz tötet dich und die Bescheidenheit macht dich größer.“ Und politische Meinungen? Man kann diskutieren, aber ich kann dich nicht ändern und du mich nicht. Darum vermeidet man dies unter Nachbarn, um keine Konfikte zu schaffen. Wir sind schließlich eine Familie.

Foto: Judith Liyeye Mukuna, Kongo

In Afrika war ich nie allein, nicht eine einzige Stunde: Sobald ich morgens die Augen aufschlug, war ich mit den anderen: lachen, reden, sich necken. Im Studentenheim waren wir zu sechst in einem Zimmer und haben zusammen gegessen und Spaß gehabt. Nur in Gemeinschaft kannst du dich sicher fühlen und Vertrauen haben.

Darum sagt man bei uns: Mwana oyo azali na mokongo ya maman naye abetaka ata mokolo mokote libaku. (Ein Kind auf dem Rücken seiner Mutter kann nicht straucheln.)

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.