Ich habe Angst vor der Rose

Teil 1

Eines der schrecklichsten Bilder meiner Kindheit, an das ich mich erinnere, ist die Szene, in der ein Kampfflugzeug eine Bombe in unseren Garten warf. Zwei Monate zuvor, als die Angst die Seele unserer Stadt beherrschte, verliebten Jalda und ich uns mutig in die Rosenblüte. Ja, mutig. In einer Zeit, in der das Zwitschern der Vögel durch den Laut von Sirenen ersetzt wird und die Bäche mit Blut getränkt sind, bedarf es großen Mutes, sich sogar in eine Blume zu verlieben. In solch einer Zeit, in der eine Kugel oder eine Bombe tausende Hoffnungen zerstören konnte, hofften wir, die Blüte der Rose zu erleben. Man hatte uns erzählt, dass sich die Knospen in der Morgendämmerung öffnen.

Mit Hilfe von Jaldas Vater pflanzten wir zwei Rosen in unserem Hof und gossen sie mit Liebe und Hoffnung jeden Tag. Jaldas Vater war ein enger Freund meines Vaters. Die rauen Hände des Krieges hatten das Leben in ihrem Dorf erwürgt. Daher nahmen wir sie in unser Haus auf. Auch wenn die Kampfflugzeuge über dem Himmel brüllten und die Panzer auf der Erde unserer Stadt wüteten, atmete die Hoffnung des Lebens immer noch dort weiter.

Unser Anwesen mit 18 Zimmern entsprach in etwa der Hälfte eines Fußballplatzes. Deswegen konnten wir später noch zwei weitere Familien unterbringen. Jalda war zwei oder drei Jahre jünger als ich, acht oder vielleicht neun. Wir beide gewöhnten uns aneinander. Eine Welt ohne Krieg und ohne Jalda konnte ich mir nicht mehr vorstellen.

Hätte ich ihr Bild nicht, könnte ich mich dann an ihr Gesicht erinnern? Ich bin mir nicht sicher.
 Ich starre stundenlang auf ihr Bild. Weder ihre tränenverhangenen Augen, noch die Farblosigkeit des Bildes, noch die Angst können ihre Schönheit verbergen.

Sie hatte runde strahlende Augen. An die Farbe ihrer Augen erinnere ich mich nicht mehr, aber später sagte ihre Mutter, dass sie braun gewesen seien, grünbraun. Ihr Gesicht war eines der Gesichter, die durch ein Lächeln unbeschreiblich schön werden.

Ihr dichtes dunkles Haar vergesse ich nie. Sie liebte ihr Haar. Manchmal bat sie meine Mutter es zu flechten, was meiner Mutter Freude bereitete. Während meine Mutter Jaldas Haar flocht, schaute sie mich lächelnd an, sogar ihre Augen lachten. Und als der Zopf fertig war, nahm sie ihr geflochtenes Haar in die Hand, drehte ihr Gesicht leicht nach links, wie eine Königin vor einem Maler, und fragte mich: „Wie sehe ich aus?“

„Schön“, sagte ich, manchmal: „sehr schön“. Ehrlicherweise kannte ich nicht viele Worte, die die Schönheit abbilden konnten. Ich wünsche mir, dass es damals keinen Krieg gegeben hätte, und ich anstatt der Worte Krieg, Waffen, Bombe, Panzer, Kampfflugzeug, Ruine, Verletzung, Tod … die Worte Niedlich, Reizend, Engelhaft, Charmant, Bezaubernd, Liebenswürdig… gekannt hätte. Und jedes Mal wenn sie mich fragte, wie sie aussähe, hätte ich eines dieser Worte benutzen können.

Anderthalb Monate vergingen. Wir wachten früher auf als die anderen, um das Blühen der Rosen zu sehen. Für mich war es äußerst schwer morgens aufzustehen und als ich wach war, sprach ich laut und ohne Ende. Wir versuchten trotzdem die anderen nicht aufzuwecken. Sie würden es uns sonst verbieten.

„Liebe ersetzte die Angst vor dem Krieg in unserem Leben.“

Jalda wusste, wie sie damit umzugehen hatte. Sie schlich in unser Schlafzimmer, hielt meinen Mund zu.

„Die Rose, die Rose …“, flüsterte sie mir ins Ohr. So wurde ich sanft und still geweckt.
Jedoch war es nicht immer ganz lautlos, denn sie hielt meinen Mund nie richtig zu. Ich verstand nie warum. Entweder waren ihre Hände nicht kräftig genug oder sie hatte Angst, mir weh zu tun. So wie die Leidenschaft, sie blühen zu sehen, wurzelte die Liebe zur Rose in unseren Herzen. Diese Liebe ersetzte die Angst vor dem Krieg in unserem Leben. Vielleicht mögen alle Menschen Blumen. Wenn man jedoch eine mit seinen eigenen Händen pflanzt, sie täglich mit Leidenschaft und Hoffnung gießt und jeden Tag ihr Ergrünen und Erblühen erlebt, dann wird man sie mehr als mögen. Dann wird sie Teil von einem selbst.

Ich erinnere mich an den letzten Morgen. Bis zum Sonnenaufgang saßen wir vor den Rosen. Leider blühten sie nicht. Aus Jaldas Augen sprach Verzweiflung. Unser ersehnter Moment, der Moment der Blüte, morgen oder übermorgen wird er kommen, versprach ich ihr.

Eine Weile schaute sie mir in die Augen, dann erschien ein Lächeln voller Hoffnung und Vertrauen auf ihren Lippen und ihren Augen.

Vielleicht fragten ihre Augen: „Wirklich?“

Vielleicht antworteten meine Augen: „Ja!“ Wenn Menschen Augen lesen könnten, wären Schwüre nie erschaffen worden, und Worte wie Zweifel gäbe es in keinem Wörterbuch der Welt. Lügen sind für Augen unbekannt. Meine Augen logen auch nicht. Aber der Krieg…

Die Rose: eigentlich Symbol der Liebe. Bei Neuland-Autor Rahil weckt sie schreckliche Erinnerungen. Malerei: Sohrab Sepehri, iranischer Dichter und Maler, †1980

Teil 2

Bis Mittag hatte ich mit Kindern unserer Nachbarn gespielt. Schließlich kam mein Onkel, zog mich am Ohr und beförderte mich umgehend nach Hause.

Alle waren bereits zum Essen versammelt. Ich setzte mich still dazu. Meine Mutter schob mir das Essen zu. An das, was es war, erinnere ich mich nicht. Jalda saß vor mir, mit dem Rücken zum Fenster. Die Hände des Frühlings berührten unsere Gesichter und Haare durchs Fenster. Andere hörten langsam auf zu essen, auch Jalda. Sie schritt zur Tür. „Ich gehe die Blumen gießen“ sagte sie. Mein Vater schimpfte mich, da ich zu spät gekommen war. Als ich aß, schaute ich Jalda durchs Fenster zu. Mit der Gießkanne ging sie zu den Rosen.

Ich konnte nicht warten, zu ihr zu gehen. Nicht die Worte meines Vaters hörte ich, nicht den Geschmack des Essens nahm ich wahr. All meine Aufmerksamkeit war auf Jalda gerichtet. Trotz der Entfernung konnte ich sie sehr gut sehen. Sie trug ein grünes Kleid, grün wie der Frühling. Mit beiden Händen hielt sie die Gießkanne. Das Wasser rann langsam auf die Rosen.

Von so weit weg sah Jalda aus wie ein bewegliches Gemälde. Ein Gemälde mit den allerschönsten Farben der Welt, den Farben der Liebe, der Freiheit, Ehrlichkeit und Hoffnung. Mein Vater hatte mit den Vorwürfen aufgehört. In jener Stille schaute ich nur zu Jalda hinüber. Obwohl man die Schüsse von fern hörte, nenne ich es Stille. Das war die Stille unseres Landes, welche nicht lange anhielt. Plötzlich fielen die Kampfflugzeuge über unsere Stadt her. Arme Jalda, sie sah aus wie ein Lamm, das sich auf einmal inmitten von Wölfen befindet.

Sie schaute nach oben, und als sie sich bewegen wollte, änderte sich alles. Alles. Das bunte Gemälde wurde ein Bild aus Feuer und Rauch. Der Krieg verwandelt die allerschönsten Erinnerungen in einem Augenblick in Albträume. Er ist beschämend grausam, und ich erlebte es mit. Ich sah, wie Jalda zusammen mit noch nicht blühenden Knospen in Stücke zerriss. Ich stelle mir immer wieder vor, Jalda steht vor allen Rosen der Welt und sobald ich sie wahrnehme, wird sie ein Bild aus Feuer und Rauch. 

Auch noch Jahre danach erwürgt mich jemand mit rauen Fingern in all meinen Albträumen und brüllt mir ins Ohr: „Die Rose, die Rose …“ als ob der Krieg die Fähigkeit bekommen hätte zu sprechen und diese schreckliche Stimme ist seine.

Auch jetzt noch, Jahre später, bin ich nicht mutig genug, mich der Rose zu nähern. Ja! Ja, ich habe Angst vor der Rose.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.