Freiheit ist ein Geschenk für alle

„Freiheit ist ein Geschenk für alle – Wie können wir dieses Geschenk mit großer Freude annehmen und zur optimalen Integration nutzen?“

Viktor Emil Frankl war Arzt und Psychiater in Wien, Jude, und KZ-Überlebender in Theresienstadt und Auschwitz. Er hat Schreckliches erlebt. In der Gefangenschaft entwickelte er das Konzept, dass man jemandem seine Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstellungen nicht wegnehmen kann, wenn er sie nicht selber abgibt. Er nennt es „die letzte Freiheit der Menschen“. Ich habe das Buch von ihm als Audiobuch 2012 gehört. Ich habe damals die Botschaft noch nicht so gut verstanden, aber ich habe verstanden, dass man auch schwierigste, neue Situationen schaffen kann, wenn man sich viel Mühe gibt und seine Vorstellungen ändert. 2014 habe ich an einem Training für Selbstermächtigung (Empowerment) teilgenommen. Hier begegnete mir diese Botschaft wieder aus „die letzte Freiheit der Menschen“ – dass es einen Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion gibt, sodass man etwas Gutes aus jeder Situation machen kann.

Ein persönliches Beispiel aus der U-Bahn: Ich war mit meinem Kind in der U-Bahn, und wir haben mongolisch gesprochen. Eine Frau saß uns gegenüber und schaute mehrmals sehr skeptisch. Ich fühlte mich schrecklich und dachte: „Schon wieder eine Deutsche, die es hasst, wenn wir unsere Sprache sprechen“. Diese Gedanken hatte ich schon oft vorher und habe meistens leise geredet und versucht, mich zu verstecken. Es hat mich wütend gemacht. Zum ersten Mal habe ich in so einer Situation mein Gegenüber angesprochen. Ich konnte mittlerweile viel besser Deutsch und war mutiger geworden. Ich schaute sie direkt an und fragte: „Warum schauen Sie mich so an?“. Sie fragte gleich zurück „Was für eine Sprache sprechen Sie?“ Nach einem kurzen Dialog erzählte sie sehr freundlich, dass sie schon in der Mongolei war und sich das schon dachte. Das war der Moment, in dem ich merkte, meine Gedanken waren total falsch. Meine negativen Gedanken kamen aus vielen schlechten Erfahrungen und machten mich immer zu einer Benachteiligten, weil ich glaubte, meine Muttersprache nicht sprechen zu dürfen. Schritt für Schritt lernte ich, dass ich verantwortlich für meine Gedanken bin und alles, was daraus resultiert. Das ist, was Frankl „Reiz und Reaktion“ nennt.

Nach dem Training 2014 fühlte ich mich wie neugeboren, voller positiver Energie und mit einer total neuen Sicht auf Deutschland und die Deutschen. Mein Leben in Deutschland sah ich in einem neuen Licht: Vorher war ich außen, jetzt mittendrin.

Eine rote, brennende Sonne am Horizont.

Ein großer Teil meines Lebens in Deutschland ist meine Arbeit, jeden Tag sechs Stunden. Die Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen ist einer der wichtigsten Faktoren für Integration.

Bis Februar 2016 hatte ich ein schwieriges Arbeitsverhältnis mit einer Kollegin. Ich habe immer gedacht, dass sie mich diskriminiert, weil ich nicht gut Deutsch spreche und weil ich eine Asiatin bin. Außerdem habe ich mich mehrmals mit ihr auseinandergesetzt. Einmal habe ich ihr gesagt, dass sie mich diskriminiert. Es war für sie eine totale Überraschung und sie sagte: „Nein, ich habe es nicht mit Absicht getan. Ich weiß gar nicht mehr, was ich damals gemacht oder gesagt habe.“ Wieder habe ich profitiert von Viktor Frankl, dass man die Freiheit hat, zu wählen, was man denkt und wie man reagiert. Es war eine richtige und wichtige Entscheidung, meiner Kollegin zu vertrauen, und das, was sie sagte, als Wahrheit zu glauben. Für mich sind meine positiven Gedanken und Gefühle und positives Handeln wichtig. Wenn ich mich immer damit beschäftige, die Gedanken anderer zu erraten, verliere ich Zeit und Energie. Diese verlorene Zeit kommt nie zurück – die Zeit, die du mit deinem Kind verbringen könntest, in der du deine Sprache verbessern könntest, oder in der du wichtige Dinge planen könntest – sie geht verloren, jeden Tag. Um diese Zeit richtig zu nutzen, und um dein Leben im neuen Land richtig zu gestalten, muss man einen Gedankenwechsel machen. Dann fühlst du dich wie neu geboren und du hast kein Zeichen mehr von dem alten „Opfer“ und „Diskriminierung“.

Seit Februar 2016 habe ich ein richtig schönes Leben in meiner neuen Heimat Deutschland und habe es neu entdeckt. Jetzt fühle ich mich frei wie ein Vogel und schreie „Ich bin frei, ich bin frei!“. Ich möchte nicht alleine fliegen. Ich ermächtige andere „Gefangene“, damit sie sich von ihrer Gefangenschaft frei lassen können. Ich sehe nicht ein Licht am Ende des Tunnels, sondern eine rote, brennende Sonne am Horizont.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.