Es muss(te) anders werden, wenn es besser werden soll(te)

Das Leben hatte gerade richtig begonnen, als der Krieg am 16. Juni 1983 ausbrach. Discos, Geburtstagspartys, Ausflüge, Schwimmen und Catering, Basketball und vieles mehr machten das Leben schön. Ich war gerade 14 Jahre alt, das Leben war leicht. Das Haus meiner Familie war neben der Brücke, die über den Fluss Al Jour führt. Viele Leute überquerten die Brücke, um zu den Rebellen zu gelangen. Es gab jede Nacht eine Schießerei zwischen den Regierungstruppen auf der einer Seite der Brücke und den SPLA Rebellen (Sudan People’s Liberation Army) auf der anderen Seite und wir waren mitten im Geschehen. Der Himmel leuchtete wie der Tag. In einer Nacht, in der nicht geschossen wurde, war uns sehr langweilig. Es wurde gefährlich und meine Eltern beschlossen uns Kinder aus der Stadt zu bringen. Eines Tages an einem Sonntag ergriffen wir, eine Gruppe von sechs Jungen, mit Fahrrädern die Flucht. Auf jedem Gepäckträger waren 50 Kilo Hirse und Reis aufgeladen. Wir flüchteten über die Brücke mit den Fahrrädern stadtauswärts und wurden von den Soldaten beobachtet. Diese informierten den Geheimdienst. Die Geheimdienste schickten die Soldaten hinter uns her, um uns aufzuhalten. Wir sind entkommen, aber die zweite Gruppe mit  27 Personen die hinter uns war, wurden von der Armee aufgehalten und alle bis auf einen Mann getötet. In derselben Nacht berichtete uns der Überlebende von diesem Vorfall; er hatte eine riesige Schnittwunde am Hals.

Auf der anderen Seite der Brücke, mitten im Wald, warteten die Rebellen auf uns und wir wurden von den Rebellen zwangsweise rekrutiert. Ein Jahr lang waren wir mit den Rebellen unterwegs und haben Munition getragen und Essen für die Soldaten aufgetrieben. Der Bürgerkrieg wurde intensiver; Die Regierung schickte bewaffnete Zivilisten, die sogenannte Jangjaweed Reitmiliz aus Darfur, in den Südsudan. Die Milizen wurden von der Regierung mit Waffen ausgerüstet, um das Vieh von meinem Volk Dinka zu rauben (Die Dinka sind das größte Volk im Südsudan und das zweitgrößte in Afrika. Sie leben als Halbnomaden und züchten Kühe). Die Regierung wollte damit erreichen, die Dinka zu schwächen und damit die Menschen davon abzuhalten, in den Bürgerkrieg zu ziehen. Am Anfang raubten die Reitmilizen nur die Kühe. Als es in den Dörfern kein Vieh mehr gab, fingen sie an, das Getreide und die Häuser zu verbrennen, um das Volk weiter zu schwächen. Irgendwann hatten sie angefangen, die Männer zu erschießen, Frauen zu vergewaltigen und Kinder zu verschleppen und als Sklaven im Nordsudan bis hin in den Tschad, nach Lybien und Saudi-Arabien zu verkaufen. Im Jahr 1985 passierte ein Vorfall: Die Kinder eines Bekannten von uns wurden von der Reitmiliz verschleppt und als Sklaven in Familien in den Nordsudan verkauft. Diese Kinder wurden von unseren Verwandten im Omdurman (ein Stadtteil von Khartoum) erkannt und die Familien benachrichtigt. Die Familien mussten ihre eigenen Kinder von den Sklavenhaltern zurückkaufen. Sie musste ihren Haushalt verkaufen, um den Rückkauf der Kinder zu ermöglichen.

Der Bürgerkrieg war für uns wie ein Spiel, wir bekamen die Waffen von den Rebellen und durften damit Schießübungen ohne Patronen machen. Jetzt wollten wir richtig in den Krieg ziehen, als mein Vater kam und uns aus der SPLA rausnahm. Mein Vater ging zu dem SPLA Führer und bat ihn, uns wieder mit nach Hause nehmen zu dürfen, um ein Abschiedsritual durchführen zu können, bevor wir in den Krieg ziehen. Wir waren nicht glücklich mit dieser Entscheidung, die sich im Nachhinein aber als richtig erwiesen hat. Denn es kam doch nicht zu diesem Ritual, da mein Vater andere Pläne mit uns hatte. Er brachte uns zu meinem Onkel in die Stadt zurück. Von dort wurden wir von meinem Onkel in ein Internat bei Khartoum geschickt, in welchem ich 1988 mein Abitur machte. Danach konnte ich nicht in der Universität von Khartoum studieren, weil ich keine hocharabischen Kenntnisse besaß. Alle Südsudanesen, die aufgrund des Bürgerkrieges vom Süden in die Hauptstadt Khartoum geflohen waren, konnten dort nicht in die Regelschule gehen. Im Südsudan ist die Amtssprache Englisch und die arabische Sprache wird als zweite Sprache unterrichtet.

Aus diesem Grund konnten die Südsudanesen nicht an Universitäten im Sudan studieren. Jedoch war dies für Südsudanesen mit einem Stipendium in Ägypten möglich. Jährlich durften bis zu 300 Studenten nach Ägypten gehen. Die Konkurrenz war so groß und ich bekam keinen Studienplatz. Daher entschied ich mich für ein Studium an der Bachta-Al-Rutha Fachhochschule für Lehramt in Khartoum. Nach einem Jahr brach ich das Studium ab, weil die Lebensumstände für die Südsudanesen in der Hauptstadt schwierig geworden waren. Da ich nun ohne Beschäftigung war, reiste ich nach Ägypten, um dort zu studieren. Dort lebte ich ein Jahr lang in Kairo und Alexandria. Da ich aber wieder keinen Studienplatz bekam und keine Arbeitserlaubnis hatte, entschied ich mich in den Südsudan zurückzukehren. Gleichzeitig erfuhr ich, dass ich einen Studienplatz in Indien für ein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Nagpur erhalten hatte. Um mich darauf vorzubereiten, ging ich zurück in den Sudan. Kurz vor meiner Abreise nach Indien wurden jedoch mein Pass und der Brief der Universität gestohlen und ich musste mich erneut bewerben. Da ich kein Jahr warten wollte, bis der nächste Studiengang anfing, entschied ich mich, am Goethe-Institut in Karthoum einen Deutschkurs zu besuchen. Ich kannte einen Freund, der dort die deutsche Sprache gelernt und daraufhin ein Visum für ein Studium in Bremen erhalten hatte. Allerdings bekam ich keinen Platz. Trotzdem war der Plan da, nach Deutschland zu gehen.

Am 28. November 1990 beantragte ich ein Touristenvisum bei der deutschen Botschaft in Khartoum und bekam dieses innerhalb von fünf Tagen. Ich musste nur noch ein Ausreisevisum beim Innenministerium im Sudan beantragen. Obwohl die Genehmigung für ein Ausreisevisum für Südsudanesen sehr schwer zu bekommen war, hatte ich Glück und ich erhielt mein Ausreisevisum nach 4 Wochen.  Am 18. Januar 1991 reiste ich mit einem Touristenvisum nach Deutschland ein. Eigentlich wollte ich in die USA gehen, denn dort lebte mein Onkel Manute Bol in Washington DC. Er spielte damals in der NBA bei den Washington Bullets und war mit 2,31 Metern der größte Basketballspieler der Welt. Trotzdem freute ich mich auf Deutschland.

An dem Tag, an dem ich ausreiste, brach der Golfkrieg aus und alle Flüge nach Europa wurden gestrichen. Ich kann mich bis heute an jeden einzelnen Moment erinnern: Ich hatte bei der Lufthansa ein Ticket für 700 sudanesische Pound erworben. Der Preis des Tickets verdoppelte sich, als der Golfkrieg ausbrach, auf 1400 Pound. Ich hatte kein Geld mehr und konnte diesen Betrag nicht mehr bezahlen. Eine Möglichkeit blieb mir noch: Falls ich eine internationale studentische ID-Card vor Schließung der Reiseagentur vorlegen könnte, bekäme ich das Ticket für die Hälfte des Preises wieder und könnte meine Reservierung behalten. Ich ging zur Universität von Khartoum und beantragte die ID-Card. Diese sollte erst am nächsten Tag zur Abholung bereit stehen. Ich erzählte dort, warum ich die ID-Card unbedingt noch heute bräuchte. Deshalb bekam ich die ID-Card noch am selben Tag. Leider kam ich an der Reiseagentur erst an, als sie bereits geschlossen hatte. Ich kam zu spät, da an diesem Tag eine Demonstration gegen den Golfkrieg stattfand und ich mit dem Taxi nicht durch die Straßensperre kam. Ich stieg aus dem Taxi aus und rannte zu der Reiseagentur. Obwohl die Agentur bereits geschlossen hatte, ließen mich die Mitarbeitenden trotzdem noch zu ihnen. Ich bekam zwar die Tickets wieder zum halben Preis, aber ich verlor die Reservierung für meinen Flug. Stattdessen wurde ich auf eine Warteliste gesetzt. Es war nicht sicher, ob die Lufthansa-Gesellschaft an diesem Tag noch landen würde. Die Reiseagentur lag in der Stadt und mir wurde empfohlen, früh an den Flughafen zu fahren. Im Sudan gab es aufgrund des Bürgerkrieges eine Ausgangssperre ab 22 Uhr. Deshalb verabschiedete ich mich von meiner Familie schon sehr früh und besuchte einen Freund, welcher in der Nähe des Flughafens wohnte und blieb dort bis 21:30 Uhr. Danach ging ich vor Beginn der Ausgangssperre zum Flughafen, obwohl ich nicht wusste, ob an diesem Abend noch ein Flugzeug aus Deutschland ankommen würde. Um 2:00 Uhr nachts landete tatsächlich eine Lufthansa-Maschine, worüber ich sehr glücklich war. Gleichzeitig hatte ich Angst, keinen Platz im Flugzeug zu bekommen. Am Flughafen waren kaum Reisende. Es waren aufgrund des Krieges aber auch wegen der Ausgangssperre wenig Menschen am Flughafen. Es war kalt, ich war müde und trotzdem lachte ich vor Freude. Um 4:30 Uhr war es endlich soweit, das Boarding wurde ausgerufen und ich durfte einfach einsteigen, denn das Flugzeug war leer.

Am 18. Januar 1991 landete ich mit der Lufthansa Maschine am Flughafen Frankfurt am Main. Ich war sehr glücklich, aber es war sehr kalt in Deutschland. Ich fror zum ersten Mal, wie noch nie zuvor in meinem Leben und gleichzeitig freute ich mich so sehr über den Winter.

Ich fuhr zu einem Bekannten aus dem Sudan von Frankfurt nach Bremen. Ich bin in einen Zug eingestiegen und wusste gar nicht, wo in Deutschland Bremen liegt. An der Seite des Zuges stand ‚Bremen‘ geschrieben. In diesem Zug bin ich einfach eingestiegen und gegen 19:00 Uhr in Bremen angekommen.

Mir gefiel Deutschland auf den ersten Blick und ich entschied mich in Deutschland zu bleiben. Ich meldete mich an der Universität Bremen für ein Studium der Wirtschaftswissenschaften an und ging mit meiner Immatrikulationsbescheinigung zur Ausländerbehörde. Mir wurde dort mitgeteilt, dass ich in den Sudan zurückkehren und dort ein Studentenvisum beantragen müsste. Ich wusste, dass ich diesmal kein Ausreisevisum im Sudan bekommen würde. Der Grund war die Wehrpflicht. Ich hätte erst meine Wehrpflicht ableisten und anschließend gegen mein eigenes Volk im Südsudan kämpfen müssen. Eine Rückreise in den Südsudan war für mich somit keine Option. Durch Bekannte in Deutschland wurde mir gesagt, dass ich stattdessen einen Asylantrag stellen sollte. Ich wusste aber nicht, was ich als Grund bei der Asylantragsstellung angeben sollte: politisches, religiöses oder wirtschaftliches Asyl. Deshalb stellte ich keinen Asylantrag.

Am Freitag den 1. Februar 1991 sind wir nach Göttingen gefahren. Dort sollten die Südsudanesen mit Unterstützung des Vereins Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) einen eigenen Verein gründen. Der Verein heißt SOSSA (Südsudanesischer Studenten Verein). Der erste SOSSA wurde 1974 in Kanada gegründet. Seitdem besteht in allen Ländern, in welchen Südsudanesen leben, dieser Verein. Bei der SOSSA erzählte ich von meinen Schwierigkeiten mit der Aufenthaltsbewilligung zur Durchführung eines Studiums. Ich wollte keinen Asylantrag stellen. Damals konnten und durften Asylbewerber nicht studieren. Der Vorstand des Vereins GfbV, Herr Ulrich Delius, stellte mir einen Anwalt zur Verfügung, der mich ohne Honorar unterstützte. Mein Antrag auf Aufenthaltsbewilligung lief weiter und ich bekam immer nur zwei Wochen Aufenthaltsverlängerung. Im August 1991 erhielt ich endlich die lang ersehnte Aufenthaltsbewilligung für ein Jahr, um studieren zu können. Auch konnte ich endlich anfangen, die deutsche Sprache zu lernen.

Bis zum Beginn meines Deutschkurses im August 1991 wurde ich finanziell von dem Diakonischen Werk Bremen und meinen Eltern unterstützt. Ab dann erhielt ich ein Stipendium von der Evangelischen Studentengemeinde (ESG). Voraussetzung hierfür war, dass ich nach dem Studium in den Südsudan zurückkehre.

1992 ging ich in die Stadt Halle um ein Studienkolleg zu besuchen. Mein Zeugnis aus dem Sudan wurde nicht anerkannt und daher musste ich noch ein zusätzliches Abitur nachholen.

1994 studierte ich Politikwissenschaften und 1995 wechselte ich zum Studiengang ‚Allgemeine Erziehungswissenschaften‘ an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ich war der erste afrikanische Student in diesem Fachbereich. Im selben Jahr wurde ich Vater und heiratete meine damalige Freundin. Ich war sehr glücklich, dass ich Vater geworden bin. Gleichzeitig wurde mir durch die Aufenthaltserlaubnis zwecks Ehe das Stipendium gekündigt. Ich studierte trotzdem weiter und bekam 1998 ein neues Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung bis zu meinem Abschluss als Diplompädagoge im Jahr 2000. Inzwischen bin ich Vater von drei Kindern.

Nach dem Studium zogen wir gemeinsam nach Bremen und von dort aus bewarb ich mich auf eine Arbeitsstelle im Münchner Kindl-Heim, welche ich auch bekam. Im Jahr 2001 kamen viele Flüchtlinge nach Deutschland und die Einrichtung eröffnete eine Gruppe für minderjährige Flüchtlinge. Ich arbeitete am Münchner Kindl-Heim als pädagogischer Betreuer mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus verschiedenen Nationen. Im Jahr 2009 wechselte ich dann intern in die Fallarbeit und war dort zuständig für die Gewährung der Jugendhilfe. 2014 übernahm das Stadtjugendamt München die Alterseinschätzung von der Regierung von Oberbayern als hoheitliche Aufgabe. Nun darf ich das Team des Stadtjugendamtes in der Alterseinschätzung im Young Refugee Center in der Marsstraße 19 leiten.

Ich fühle mich hier in München sehr wohl, ich habe so viel erreicht, Familie, Arbeit und Gesundheit. Ich habe das Bedürfnis, in den Südsudan zurückzukehren und den Aufbau mitzugestalten. Jedoch lässt die Infrastruktur im Südsudan es noch nicht zu, dass ich meine Familie mitnehme.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.