„Es macht natürlich großen Spaß, mit solch motivierten Schülern zu arbeiten!“

Als Bayern 2011 die Berufsschulpflicht für Geflüchtete zwischen 16 und 25 Jahren einführte, bekam Klaus Seiler den Auftrag, an seiner Schule in Bogenhausen entsprechende „Berufsvorbereitungsklassen“ zu organisieren. Fünf Jahre später wird er Gründungsdirektor der eigenständigen Städtischen Berufsschule zur Berufsintegration, einem Münchener Kompetenzzentrum für die Flüchtlingsbeschulung. In mehr als 20 Klassen werden hier junge Erwachsene mit Fluchthintergrund auf das deutsche Ausbildungswesen oder einen weiterführenden Schulbesuch vorbereitet.

Guten Tag Herr Seiler! Sie waren Direktor der seit anderthalb Jahren bestehenden Berufsschule für junge Geflüchtete in der Balanstraße (1) und sind kürzlich in Pension gegangen. Wie geht es Ihnen?

Sehr gut, danke! Nicht, weil ich jetzt nicht mehr arbeite (lacht) – mir ging es auch vorher gut, als ich hier Schulleiter war. Diese Aufgabe hat mir großen Spaß gemacht. Jetzt geht es mir gut, weil ich viel Zeit für mich habe. Ich war 49 Jahre lang berufstätig. Da genieße ich es nun natürlich sehr, viel Freizeit zu haben.

Das freut mich! Würden Sie uns ein wenig über Ihr Leben erzählen? Wo sind Sie geboren?

Ich bin in München geboren worden und hier auch zur Schule gegangen, zur Hauptschule, die heute „Mittelschule“ heißt. Mit 14 habe ich eine Lehre als Fernmeldetechniker begonnen und nach dem Abschluss als Facharbeiter gearbeitet. Dann bin ich noch mal zur Schule gegangen, habe Abitur gemacht und anschließend in München studiert – Elektrotechnik, Sozialkunde und Geschichte. Anschließend kam die Referendarzeit, und danach bin ich als Lehrer an eine Förderberufsschule gegangen. Berufsbegleitend habe ich aber noch Sonderpädagogik für Lernbehinderte studiert und drei Jahre an einer entsprechenden Schule gearbeitet. Dann wechselte ich an eine Berufsschule für Elektrotechnik, hier arbeitete ich zwölf Jahre. Anschließend war ich fünf Jahre am Pädagogischen Institut2 tätig und bin dann als stellvertretender Schulleiter an die Berufsschule am Bogenhauser Kirchplatz gegangen. Nach drei Jahren wurde ich dort Schulleiter. Das habe ich dann vierzehn Jahre gemacht. Mein letztes Jahr verbrachte ich an der schönen Berufsschule an der Balanstraße.

Foto: M. Weiß

Wie kam es dazu, dass Sie vom Bogenhauser Kirchplatz an die Balanstraße wechselten?

Als 2015 viele Flüchtlinge nach München kamen, war es das Anliegen der Stadt, möglichst viele der jungen Menschen in eine Schule zu bringen. Die Kapazitäten am Bogenhausener Kirchplatz waren aber schnell erschöpft. Wir hatten zum Schluss 125 Lehrkräfte und über 2000 Schülerinnen und Schüler! Deshalb hatten wir schon früh eine Filiale an der Balanstraße eröffnet. Ich habe dann bei der Stadt beantragt, die Schule zu teilen. Der Stadtrat hat dem Antrag sehr schnell zugestimmt. Ich wollte dann an die Balanstraße wechseln, weil ich jemand bin, der immer wieder gerne eine neue Herausforderung sucht. Außerdem bin ich sehr neugierig. Hier hatte ich, zusammen mit Herrn Fincks, der jetzt auch mein Nachfolger ist, eines der schönsten Jahre meines ganzen Berufslebens.

Warum beendet man als Schüler manche Schulen eigentlich schon nach einem Jahr, andere erst nach zwei oder drei Jahren?

Für uns war von Anfang an klar, dass ein Jahr Beschulung für Menschen, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind, viel zu wenig ist. Man braucht zwei Jahre, eher noch drei Jahre. Weil die Sprache für viele Flüchtlinge ein Problem darstellt und sie Zeit brauchen, das berufliche Bildungssystem kennen zu lernen und heraus zu finden, welchen Weg sie gehen wollen. Es gibt über 300 Ausbildungsberufe in Deutschland! Als eine der ganz wenigen Schulen in Deutschland haben wir eine zweijährige Beschulung für Flüchtlinge durchgesetzt.

Und gibt es auch Schüler, die drei Jahre bräuchten?

Auf jeden Fall! Manche finden nach zwei Jahren Schule dann nicht den Anschluss im Arbeitsleben und ein Jahr mehr tut ihnen sehr gut, denn da kann noch viel passieren. Dann ist die Chance deutlich größer, später erfolgreich eine Ausbildung zu absolvieren.

Wer ist eigentlich der Chef eines Schulleiters?

Letztlich der Oberbürgermeister. Wir sind ja eine städtische Schule – da ist er der oberste Chef. Mein direkter Vorgesetzter ist aber die Stadtschulrätin, die für das gesamte Schulreferat zuständig ist.

Wie viel Freiheit hatten Sie als Schulleiter?

Freiheit ist immer das, was man sich nimmt! Und ich habe mir immer viel Freiheit genommen, nie groß gefragt im Referat, sondern einfach gemacht, wenn ich es für sinnvoll gehalten habe. Ich habe da auch nie größeren Ärger bekommen.

Wie hat umgekehrt die Stadt Sie unterstützt?

Auf vielerlei Weise. Wir haben immer das Lehrpersonal bekommen, welches ich angefordert habe. Auch finanziell; die Schule ist gut ausgestattet, etwa mit Computern oder Beamern und Werkstätten. Diese Unterstützung ist uns aber nicht in den Schoß gefallen; wir haben sie bekommen, weil wir sehr hartnäckig in unserer Forderung waren. Das ist auch eine wichtige Aufgabe als Schulleiter!

Wie war es anfangs für Sie, als Flüchtlinge an die Schule kamen?

Am Bogenhauser Kirchplatz hatten wir früher zum Teil ein Klientel, das nicht ganz einfach war: Schülerinnen und Schüler, die nach der Schule keine Ausbildung begonnen hatten. Da musste man mitunter schon viel Motivationsarbeit leisten. Mit den Flüchtlingen kam dann eine ganz andere Gruppe (3) dazu. Nahezu alle wollten etwas lernen, unsere Sprache sprechen, sich mit unserer Kultur vertraut machen, wollten arbeiten. Es macht natürlich auch großen Spaß, mit solch motivierten Schülerinnen und Schülern zu arbeiten! Deshalb war für mich schnell klar, an die Balanstraße zu wechseln.

Was bedeutete es für Ihre Arbeit, dass die Schüler aus so vielen verschiedenen Ländern und Kulturen kommen?

Das fand ich erstmal sehr spannend, weil ich sehr interessiert bin an anderen Kulturen. Ich reise gerne und viel, und darü- ber hat sich mein Kulturbegriff deutlich erweitert. Mein Prinzip war immer das des lebenslangen Lernens. Deshalb habe ich mich auch sehr gefreut, viel von den Schülern zu lernen – wie sie denken oder wie sie reagieren in bestimmten Situationen. Das ist sehr spannend!

Was haben Sie als wichtigste Aufgabe gesehen, als die neuen Schülerinnen und Schüler in Ihre Schule kamen?

Es gehört zu unseren zentralen Aufgaben, sie in unsere Kultur einzuführen, ihnen zu erklären, wie unser Schulsystem funktioniert. Das ist nicht immer ganz einfach, weil viele von ihnen aus einem ganz anderen Bildungssystem kommen und mitunter in ihrer Heimat auch nur wenige Jahre zur Schule gegangen sind. Andere wiederum haben schon eine Hochschule besucht.

Gibt es eigentlich einen Unterschied bei den Abschlussprüfungen für deutsche Schüler und Flüchtlinge?

Nein, die Anforderungen etwa beim Quali (3) sind gleich. Ausnahme: Es gibt eine „Deutsch-als-Zweitsprache-Prüfung“. Ansonsten gibt es aber keinen Unterschied. Und weit über 90 Prozent schaffen an der Balanstraße auch den Abschluss!

Wie arbeitet die Schule mit Unternehmen zusammen – etwa was Ausbildungsplätze angeht?

Wir kooperieren sehr eng mit der Industrie- und Handelskammer und den Handwerkskammern, die ja zuständig sind für Ausbildungen. Sie kommen an die Schule, wir tauschen uns aus, sie informieren über Praktikums- und Lehrstellen – das ist eine sehr gute Zusammenarbeit. Dieser Kontakt ist für unsere Schule natürlich enorm wichtig, weil es ja unser Ziel ist, die Schüler in Ausbildung zu bringen.

Was denken Sie über die aktuelle Flüchtlingspolitik?

Deutschland ist ein reiches Land, wir können auf jeden Fall viele Flüchtlinge aufnehmen. Dass manche Politiker die Grenzen schließen wollen, weil sie Sorge um den Verlust mancher Wähler an die AfD-Partei haben, die Stimmung gegen Flüchtlinge macht, finde ich unmöglich!

Haben Sie eine Empfehlung für Flüchtlinge, wie sie sich angesichts der politischen Lage in Deutschland verhalten sollten?

Sie sollten sich nicht alles gefallen lassen und sich informieren, welche Rechte sie haben. Syrer und Afghanen zum Beispiel haben derzeit große Chancen, wenn sie gegen ihre Bescheide klagen. Generell ist es sinnvoll zu verfolgen, was gerade in der Politik passiert und sich auch einmischen. Das gilt natürlich längst nicht nur für Flüchtlinge. So kann Druck auf die Politik entstehen! Zum Abschluss: Was war Ihre interessanteste Erfahrung als Schulleiter einer Schule für Geflüchtete? Es war auf jeden Fall eine ganz tolle Erfahrung, zu sehen, wie schnell viele Schülerinnen und Schüler Deutsch gelernt haben – das hat mich enorm beeindruckt!

(1) Anmerkung der Redaktion: Die Berufsschule für Geflüchtete in der Balanstraße existiert faktisch seit 2011. Im fünften Jahr ihrer Existenz wurde sie aufgrund stark gestiegener SchülerInnen-Zahlen zu einer selbständigen Schule. (https://berufsintegration.musin.de)

(2) Anmerkung. d. Red.: Das Lehrerfortbildungsinstitut der Stadt München.

(3) Anmerkung der Redaktion: Der qualifizierende Mittelschulabschluss („Quali“) beinhaltet zentral gestellte Prüfungsaufgaben, etwa in Mathematik. Er liegt im Anforderungsniveau über dem „normalen“ Mittelschulabschluss.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.