Engel hinter Gittern

In der Türkei werden hunderte Babys in Gefängnissen groß

Wenn du diese Zeilen liest, werde ich wahrscheinlich zum ersten Mal Vater in meinem Leben geworden sein. Momentan steht in unserer Wohnung die leere Wiege, die wir für das Baby vorbereitet haben, und an der Wiege ein Gitter, das ich gründlich befestigt habe. Neben der Wiege liegen weiße Tücher für die Reinigung, bei denen wir beim Kauf darauf geachtet haben, dass sie aus Baumwolle sind. Ich suche die beste Windelmarke. Ich schaue im Internet Videos, wie man die Blähungen von Babys richtig behandelt. Ich lese über Babyfertiggerichte, ich erfahre, wie viel Muttermilch benötigt wird. Meine Frau und ich diskutieren über Raumtemperatur, ob es dem Baby zu kalt ist, und ob wir eine zusätzliche elektrische Heizung kaufen sollten.

Das schönste Gefühl der Welt sollte der Duft des eigenen Babys sein. Man sagt sogar, wenn du den Himmel riechen willst, rieche dein Baby. Ich bin aufgeregt. Ich bin aufgeregt. Ich mache mir Sorgen, wie ich ihm eine bessere Zukunft bieten kann. Es ist eine gute Sache, dass ich in diesem Land bin, ich sage ihm, dass es eine gute Ausbildung bekommen kann, es kann etwas für die Gesellschaft tun. Es kommt ein Moment, wenn ich darüber nachdenke. Ich schäme mich. Alles ist unvollendet. Ich erinnere mich an die unschuldigen Menschen, die ich zurückgelassen habe, als ich in meine Freiheit kam. Dutzende Mütter mit ihren eintägigen Babys, die, bevor sie überhaupt das Gefühl des Muttersein spüren konnten, unmittelbar nach der Geburt aus dem Kreißsaal ins Gefängnis gekommen sind. Im Gefängnis haben einige der schwangeren Frauen ihr Baby verloren. Unter widrigen Bedingungen im Gefängnis, unter Misshandlung, Mütter, die Fehlgeburt haben, weil sie nicht zum Arzt gebracht wurden. Babys, die lernen, über den kalten Beton des Gefängnisses zu krabbeln.

Geborgenheit und ein glückliches, sicheres Zuhause: Was für uns oft selbstverständlich ist, bleibt inhaftierten Babys in der Türkei verwehrt. 

Ein Brief aus dem Gefängnis an die Welt

Hallo, ich schreibe euch von einem Ort, an dem niemand sein möchte, aus dem Gefängnis. Ich kann sagen, dass ich hier das Tageslicht erblickt habe. Von Personen mit blauer Kleidung wurde ich am Tag meiner Geburt, zusammen mit meiner Mutter vom Krankenhaus aus, hierher gebracht. Ich bin neugierig, wie es wohl da draußen aussieht. Die Babys dort draußen sollen etwas, das man Spielzeug nennt, sehr mögen. Ich konnte so etwas kein einziges Mal hier sehen. Könnt Ihr mir das beschreiben?

Ebenso sollen die Babys dort so viel Nahrung bekommen, so viel sie möchten. Hier haben sie auch ein paar Mal Babynahrung ausgeteilt, aber die Männer an der Tür, mit grimmigem Blick haben auch das verboten. Ich weiß zwar nicht ganz, was es bedeutet, aber meine Mutter weint sehr oft darüber, dass ich unterernährt sei. Ach ja, die Babys da draußen sollen auch ein Bettchen haben, jedes Baby hätte ein eigenes. Wir, meine Mutter und ich schlafen auf dem Boden, manchmal auch im Etagenbett, wenn wir an der Reihe sind. Meine Mutter sagt, es gäbe auch Menschen guten Herzens auf dieser Welt. Sie betet immer, dass ich nicht krank werde, da es hier keinen Kinderarzt gibt. Wenn ich weine, schimpfen manchmal die anderen Frauen mit meiner Mama. Doch ich habe gehört, dass es das Recht jedes Babys ist, zu weinen. Übrigens, wenn ich groß bin, werde ich niemandem etwas beibringen. Nachdem man meine Eltern, die Lehrkräfte sind, inhaftiert hat. Das Lehren ist scheinbar eine große Straftat.

Speziell für diesen Brief gezeichnet. Illustration: Carlos Latuff

Eigentlich gibt es hier nicht viel, was mir gehört. Jedoch habe ich in einer anderen Stadt einen Vater, der wie wir inhaftiert ist. Ich bin gespannt auf ihn. Meine Mutter sagt, dass ich wie er rieche und ihm ähnle. Hier sind außer mir noch mehr als 800 andere Babys. Sie teilen mit mir das gleiche Schicksal. Wir beobachten vom Gefängnis aus die Gesellschaft. Wir können die Sonne, Bäume, Sterne nicht sehen, die Blumen nicht riechen und die Tiere nicht streicheln. Hier gibt es nur Mauern. Und böse Menschen, die uns hier eingesperrt haben.

Das inhaftierte Baby

Anmerkung der Redaktion: Der Autor bezieht sich inhaltlich auf die Angaben des türkischen Menschenrechtsaktivisten und Oppositionspolitiker Prof. Dr. Ömer Faruk Gergerlioğlu (twitter.com/gergerliogluof ).

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.