Ein Kind ist ein Segen

Wie schwer es ist Eltern zu werden, im Heimat- oder Einwanderungsland

Es ist Sonntag, 23 Uhr. Ich hänge Wäsche auf und habe gerade das Geschirr abgewaschen. Ich sage allen, die Kinder haben wollen, es ist eine Erfahrung; dein Leben wird sich ändern, sei bereit — vor dem Baby und nach dem Baby. Jetzt wird es dein Leben gestalten. Seine Essenszeit, seine Schlafzeiten, deinen Einkaufskorb bestimmt er oder sie, immer. Das Kleine wird aber auch großes Glück bringen.

Eigentlich hätte meine Frau diesen Artikel schreiben sollen, nicht ich. Weil ich nach ihrer Meinung gefragt habe, als ich ihn schrieb, hätte er heißen sollen: Wie schwer es ist Mutter zu werden anstatt Eltern. Weil die Mütter den größten Teil der Last übernehmen, als Folge der Natur.

Deniz ist über ein Jahr alt. Er fängt an zu laufen. Er ist immer in Bewegung. Wir können ihn nicht mehr einholen, wenn er seine Energie loswerden will. Er lernt schnell, er ist sehr neugierig. Manchmal bricht er etwas, verletzt sich selbst. Ich bin den ganzen Tag bei der Arbeit. Also ist er den ganzen Tag bei seiner Mutter. Ich komme von der Arbeit nach Hause und fühle mich als wäre ich vom LKW überfahren: wegen der Pandemie ist die Lebensmittelindustrie sehr beschäftigt. Wir können abends als Familie vielleicht ein oder zwei Stunden zusammen verbringen. Und unsere Wochenenden sind gerade nicht sehr abwechslungsreich, wisst ihr. Ich wechsle Deniz‘ Windel, füttere ihn, wasche ihn manchmal. Aber Deniz und ich halten nicht länger als eine Stunde durch. Ich muss zugeben, es ist schwierig, besonders wenn du ungeduldig bist wie ich. Er will sich endlich am Fuße seiner Mutter wiederfinden. Er ist immer noch Mamas Baby. Manchmal denken wir, es wäre einfacher, wenn unsere Familie hier wäre. Wäre es? Eigentlich ist das das Thema des Artikels. Ich glaube, ich habe die Einleitung etwas lang gehalten.

Kinder im alten oder neuen Land großziehen? Was ist schwerer? Beide haben ihre Vor- und Nachteile.

Foto: Akin Öztürk

Der Druck der Alten

Als erster Punkt: die Eltern. Ich meine, Großeltern. Wenn wir in unserer Heimat wären, würde sich die Großmutter einen Teil des Tages um Deniz kümmern. Das würde die Last meiner Frau lindern. Im Moment hat sie nur wenig Sozialkontakt. Meine Frau arbeitet normalerweise in der Modebranche und mit Social Media, aber aus zeitlichen Gründen kann sie momentan keine beruflichen Schritte machen. Wenn sie nach den endlosen Erledigungen Zeit hat, kann sie sich ausruhen. Ich koche gerne. Das ist meine Aufgabe am Wochenende, aber es ist nicht genug. Ich weiß nicht mehr, wann wir das letzte Mal einen Film zusammen gesehen haben. Entweder wacht Deniz nach der Hälfte des Films auf oder wir schlafen ein.

Schauen wir uns die entgegengesetzte Seite an. Das Gute daran, weit weg von den eigenen Eltern zu sein ist, dass du dein Kind erziehen kannst, wie du willst. Niemand mischt sich ein. Großelterliche Erfahrung ist natürlich sehr wertvoll, aber es überwältigt eine neue Mutter oft. Die Mutter fragt instinktiv, ob ich mich um mein Baby kümmern kann oder ob ich es füttern kann. Niemand mischt sich hier ein, niemand gibt Ratschläge.

In Deutschland bringen Dir Hebammen alles bei. Ein kleiner Rat: finde eine Hebamme, bevor du ein Kind bekommst. Weil es heutzutage sehr schwierig ist, eine Hebamme zu finden. Hier ersetzen die Hebammen die Hilfe deines familiären Umfeldes. Tanten, Geschwister — in der Türkei kommt jeden Tag immer irgendjemand zu einer Mutter. Es ist selbstverständlich, dass, wenn das Baby da ist, die älteren Verwandten ihre Erfahrungen teilen. Hier erfüllen Hebammen diese Aufgabe. Sie stehen Dir von der Schwangerschaft bis zur Geburt und danach bei. Obwohl Hebammen in der Türkei eine Mutter nicht so lang begleiten, werden sie trotzdem verehrt. Zum Beispiel, wenn man in der Türkei wütend auf jemanden ist, flucht er über seine Mutter oder seine Hebamme. Niemand flucht über die Tante!

Kindervergleich

In der Türkei werden Mütter sehr traurig und verärgert, wenn „das Kind nicht isst, das Kind ist schwach“. Das passiert, wenn man Kinder vergleicht. Eine Mutter, deren Kind dicker ist, gilt als eine bessere Mutter. Dabei ist es nicht das Gewicht des Kindes, das wichtig ist, sondern das, was es isst, welche Nährstoffe und Vitamine es zu sich nimmt, finde ich. Die Leute hier sind realistischer. Wenn das Baby etwas klein ist, sagen sie „Naja, es ist mein Baby und er/sie ist so“.

Realismus

Ich hatte eine Nachbarin, in meinem alten Dorf hier in Bayern. Sie hat 3 Kinder. Zwei gingen auf das Gymnasium und das andere Kind zur Mittelschule. Über ihn sagte sie: „Er ist klug, aber er lernt nicht gerne, er wird trauriger sein, wenn er am Gymnasium scheitert“. Das Vergleichen von Kindern zerstört ihre Fähigkeiten, bevor sie sie entwickeln können. In der Türkei, sobald das Baby geboren ist, träumt man davon, dass es Arzt, Ingenieur, Pilot, Geschäftsmann oder Sänger wird, dass seine Stimme schön und, dass er viel Geld verdienen wird. Niemand träumt von einer guten Krankenschwester oder empfiehlt es, ein lebensrettender Feuerwehrmann zu werden. Jeder will ein guter Ingenieur sein, aber niemand erwähnt die Bedeutung des Meisters, der die Wand baut. Ich finde aber, es geht darum, zur Moral des Kindes beizutragen, zu seiner Fähigkeit, ein guter Mensch zu werden.

Deniz liebt es, sein Auto mit einem Plastikschrauber zu reparieren. Meine Frau sagte „Ich denke, er wird ein guter Mechaniker sein.“ Und ich sagte: „Warum kein Ingenieur?“ Meiner war ein türkischer Gedanke und der meiner Frau ein deutscher. Als sie betonte, dass er gut in seinem Job sein würde, ohne auf den Status zu schauen, hob ich zuerst den Status hervor. Aber ein guter Mechaniker ist besser als ein gewöhnlicher Ingenieur.

Kaufkraft

Ich habe gerade einen durchschnittlichen Job. Ich würde sagen, ich verdiene mehr als den Mindestlohn. In der Türkei hatte ich einen guten Job. Aber ich hätte in der Türkei den Deniz nicht so gut versorgen können wie hier. Ich habe folgenden Vergleich gemacht: in der Türkei kann man mit dem Mindestlohn 16 Packungen Windeln kaufen. Hier kann man etwa 150-160 Packungen mit dem Mindestlohn bekommen. Des Weiteren kann man in der Türkei 15kg Babynahrung mit dem Mindestlohn kaufen, während man hier 150kg bekommt.

Wir fragen uns nicht, ob wir uns hier Windeln leisten können. Es fehlt nicht an Klamotten. Die Anzahl der Spielzeuge wächst. Und ich muss mich nicht fragen, ob ich im nächsten Monat diese Dinge meinem Kind bieten kann. Nicht ich, sondern der Sozialstaat Deutschland macht das möglich. 217 Euro Kindergeld im Monat reichen für Windeln und spezielle Babynahrung. Wir haben auch die Möglichkeit, zusätzliche Unterstützung vom Staat zu beantragen, wenn ich es mir nicht leisten kann. Obwohl ich das Doppelte des Mindestlohns in der Türkei verdient habe, wäre es dort unmöglich gewesen, meinem Kind diese Dinge zu bieten.

Sprache

Natürlich geht es wieder um Sprache. In den ersten Monaten, als ich nach Deutschland kam, habe ich den Personalexperten eines großen Versicherungsunternehmens kennengelernt. Er sagte, „Ich bin seit 7 Jahren hier, aber ich kann leider nicht viel Deutsch.“ Ich fragte: „Hast du keine Schwierigkeiten im Job?“ Woraufhin er antwortete: „An meinem Arbeitsplatz wird Englisch gesprochen, und ich hatte nicht viele Probleme in öffentlichen Einrichtungen, aber ich habe große Schwierigkeiten bei Elternversammlungen. Die Lehrer müssen es uns am Ende des Treffens noch einmal erklären. Ja, nicht für dich selbst, sondern für deine Kinder ist es ein Nachteil.“ Das macht mir Sorgen.

Die Sprachen der Zahlen (Mathematik, Physik, Chemie) sind auf der ganzen Welt gleich. In den Sozialwissenschaften, zum Beispiel in der Geschichte, kann ich Deniz von den ersten germanischen Stämmen bis zum 1. Otto, über den 1. Wilhelm, bis hin zur Wiedervereinigung erzählen. Ich könnte ihm stundenlang von dem Geist der deutschen Verfassung bis über die Verfassungsrahmen von Deutschland erzählen — aber kann ich das mit den richtigen Worten auf Deutsch tun? Wenn er die Schule nicht besteht, werde ich mich verantwortlich machen?

Bildung

Schauen wir uns das Thema Sprache aus Deniz‘ Perspektive an. Wenn Deniz 18 Jahre alt ist, hat er eine türkische und deutsche Muttersprache, mindestens C1 in Englisch und B2 in Französisch oder Spanisch wenn er auf das Gymnasium geht. In der Türkei, wenn wir Glück hätten und er ein guter Buchleser würde, würde er in Türkisch gut und wenn er es in eine der Top 5 Gymnasien in der Türkei schaffte, oder wenn wir wirklich Geld hätten, könnte er vielleicht Englisch.

Kultur

Mein Kind wurde in Deutschland geboren, hier wird es zur Schule gehen, hier trinkt es Wasser, wächst auf den Straßen Deutschlands auf. Aber es gibt immer die Frage, ob er die Kultur lernen kann, aus der ich komme? Wird er die Sätze kennen, die ich von meinen ältesten Verwandten gehört habe, als ich klein war? Wird er die türkische Umgangssprache, Witze oder Redewendungen verstehen können?

Naja, wir könnten viel größere Probleme haben. Aber ein Kind ist ein Segen, ein Geschenk für uns. Ich hätte heute ein Kind im Gefängnis großziehen können*. Wie auch immer, ich werde über keine traurigen Themen in diesem Artikel schreiben. Ich habe es meiner Redakteurin versprochen.

Bis zum nächsten Mal, bleibt gesund!

*Siehe den Beitrag von Akin „Engel hinter Gitter

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.