Die Zeit im Zug vergeht wie im Flug

Flüchtige Impressionen und Gedanken während einer Zugfahrt

Das Warten an sich ist ja unerträglich. Dies bilde ich mir zumindest ein. Wenn ich allerdings dieses Warten im Zug – fünf Minuten vor der Abfahrt – verbringe, dann weckt es irgendwie ein angenehmes Gefühl in mir und die Zeit im Zug vergeht wie im Flug. 

Gegenüber von mir sitzt eine Dame, Mitte 30 ist sie wohl, die Haut hellbraun, die Haare blond. Sie guckt unkonzentriert und apathisch durch das Fenster. Sie wirft ihren Blick wahrscheinlich auf die bunten Bäume, deren Blätter in dieser Jahreszeit ein farbenfrohes Kleid tragen. 

Foto: Khalil Khalil, Syrien

Nach einigen Minuten fährt der Zug allmählich. Aber drinnen herrscht immer noch keine Ruhe, da es manche gibt, die nach ihrem Sitzplatz suchen. Einer quetscht sich an mir vorbei, ohne zu merken, dass es neben mir einen freien Sitzplatz gibt – vielleicht möchte er einfach am Fenster sitzen. Dann schaut die Frau mich an, weil ihr ein Tunnel den Blick aus dem Fenster versperrt. Aber ganz kurz, da der Tunnel auch nur kurz ist. Dies löst in mir das dringende Bedürfnis aus, sie etwas zu fragen und bringt mich zu einem inneren Monolog, ob ich sie etwas fragen darf. Ich weiß nicht, ob ich das wage. Solche Fragen schaden aber nicht: „Wie geht’s Dir?“ – „Darf ich Sie eigentlich duzen?“ oder irgendeine Floskel, so wie die, mit denen Di- plomaten Gespräche führen. Bedauerlicherweise kommen meine innerlichen Fragen nicht zur Sprache. Vielleicht weil ich scheu wie ein Reh bin, woran viele meiner Freunde nicht glauben. Ich kann aber immerhin mit Fug und Recht behaupten, dass ich eine spitze Zunge habe. Aber nur schriftlich… Dann steckt sie ihre Kopfhörer fest in die Ohren und genießt den Sonnenuntergang, bevor die Sonne vom Heute Abschied nimmt. Und sie schaut auf deren Strahlen so, als sähe sie die Strahlen über einen Tellerrand.

Dann spreche ich sie doch an. Sie dreht sich zu mir, starrt mich halbherzig an und hält inne. Sie nimmt den Kopfhörer aus einem Ohr und ich sage: „Die Fahrkontrolle ist da“. Sie sucht – total von der Rolle – nach ihrer Fahrkarte, während einer von der Fahrkontrolle meine Fahrkarte nach einem schnellen Blick darauf locht, um seine Aufgabe zu erledigen. Ich glaube, er ist hundemüde, denn man darf eine Monatskarte eigentlich nicht lochen. Vielleicht ist er nach einem langen Arbeitstag nicht mehr ganz bei der Sache. „Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie erreichen in wenigen Minuten Karlsruhe Hauptbahnhof “, ruft der Lokführer nach 20 Minuten Verspätung. Die Betonung liegt auf „Verspätung“.

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.