Das besondere Geschenk

Als ich noch ein Kind war, bin ich jedes Wochenende in die Sonntagsschule gegangen. Damit alle Kinder pünktlich waren, hat die Kirchenglocke rechtzeitig geläutet. Aber alle Kinder haben gemerkt, dass irgendetwas mit der Glocke nicht stimmte.

Jeden Sonntagmorgen um sechs Uhr hat mich die Glocke aufgeweckt. Da habe ich gewusst, dass ich in einer Stunde in der Kirche sein musste. Auf meinem Weg dorthin kam ich an einem Baum vorbei, an dem die Glocke hing. Denn unsere Kirche hatte keinen Turm. Alle Kinder blieben vor der Glocke stehen und rätselten, was dieses komische Ding am Baum wohl sei. Eine richtige Glocke sieht nämlich ganz anders aus.

Ich fragte meine Lehrerin: „Warum sieht die Glocke so merkwürdig aus?“ Meine Lehrerin hat nur gelacht und keine Antwort gegeben. Wir Kinder haben immer wieder gefragt, unsere Eltern, unsere Lehrer, Bekannte aus dem Stadtviertel. Aber niemand hat das Geheimnis von der Glocke verraten.

Erst viele Jahre später, als wir schon erwachsen waren, haben wir das Geheimnis gelüftet: die Glocke war keine Glocke, sondern eine Bombe! – Aber wie wird aus einer Bombe eine Kirchenglocke? Ein englisches Flugzeug hatte die Bombe im Zweiten Weltkrieg auf mein Stadtviertel geworfen. Als später an diesem Platz eine Kirche gebaut wurde, gab es leider keine Glocke. Da hat einer der Männer die Idee gehabt, die Bombe an einen Baum zu hängen und sie als Glocke zu benützen.

Das war das einzige gute Geschenk an mein Volk aus dem Zweiten Weltkrieg.

Illustration: Elena Buono

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Raphael Müller-Hotop

Ich heiße Raphael Müller-Hotop, bin Psychologe und war von Oktober 2014 bis August 2019 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des NeuLand e.V.. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue das Engagement der AutorInnen und Ehrenamtlichen mitzuerleben und gemeinsam mit so vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen dieses verbindende Projekt mitzugestalten. Was mir an NeuLand außerdem besonders gefällt ist der Austausch mit den AutorInnen und unser Ziel, durch die Vermittlung eines breiten Spektrums an Perspektiven Verstehen, Kennenlernen und Dialog zu fördern.